Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft
ab.«
»Ihr habt das nicht gepachtet hier«, sage ich und werfe mein Alter in die Wagschale: »Außerdem bin ich schon länger auf der Straße!«
Sie wird ärgerlich: »Geh weiter, nicht hier bei uns! Raffst du es nicht?«
Ihr Freund erklärt mir die Situation: »Das ist unser Platz. Seit einem halben Jahr. Musst du verstehen. Wir haben die Erlaubnis von den Inhabern des Schuhgeschäfts. Wir passen auf, dass hier keiner einbricht.« Ich gebe nach, wünsche den beiden eine gute Nacht und suche weiter.
Auch in anderen Schlafecken handele ich mir Platzverweise ein. Erst am Appellhofplatz, vis-à-vis des historischen Gerichtsgebäudes, direkt neben einem der Eingänge zum Westdeutschen Rundfunk (WDR), der sich mit seinen hässlichen Neubauten krakenartig dieses Teils der Innenstadt bemächtigt hat, heißt man mich willkommen. Ein Grauhaariger mit weißem Vollbart hält mir eine Flasche zum Willkommenstrunk hin. Ich lehne dankend ab. Er knurrt irgendetwas und macht eine wegwerfende Handbewegung. Ein anderer Alter ergreift meine Hand und zieht mich zu sich runter.
Die drei älteren Männer kommen aus Polen, der jüngere ist Russe; sie schlagen hier schon seit einigen Wochen ihr Lager auf, wie sie mir erzählen. Zu jeder Tag- und Nachtzeit halten sie die Stellung und erbetteln auch ihren Lebensunterhalt hier. Manchmal, das erlebe ich später, gesellt sich noch eine jüngere Frau zu ihnen, die meistens stark angetrunken ist. Auch heute haben sie wohl einiges an Alkohol konsumiert, wie zwei leere Wodka- und mehrere Bierflaschen verraten, die an der Hauswand abgestellt sind, direkt unter dem Schild »Notausstieg freihalten«. Ob die brennenden Kerzen dem Weihnachtsfest geschuldet sind, erfahre ich nicht.
»Du deutsch?«, fragt jetzt der, der mich zu sich hinuntergezogen hat.
»Nicht direkt«, antworte ich, »ich bin Internationalist.«
Bei meiner Antwort leuchten seine Augen, er umarmt mich und hält mir seinen Becher mit erbettelten Münzen hin. »Nimm, Bruder«, sagt er und bietet mir seinen Schlafplatz über einem Gitter an, wo warme Luft aus dem WDR-Keller nach oben strömt. Mir ist zum Heulen zumute, ich lehne dankend ab und breite meine Isomatte seitlich von ihm unter einem grellen Licht aus, dem einzigen noch freien Platz.
Mir ist in der letzten Stunde eisig kalt geworden und ich verkrieche mich in meinen Schlafsack. Als ich irgendwann das Schnarchen meiner Nachbarn vernehme, falle auch ich in einen unruhigen Schlaf. Es mag gegen 3 Uhr nachts sein, als ich aufschrecke. Ich rieche eine Alkoholfahne direkt vor meinem Gesicht und spüre eine Hand, die an mir rüttelt. Ich befürchte, beklaut zu werden oder dass mich jemand im Delirium versehentlich abmurkst.
Es ist aber nur der junge Russe, der seine warme Schlafstelle verlassen und sich ohne Schutz neben mich auf das nackte Pflaster gelegt hat. Er versucht, mit den paar Brocken Deutsch, die er kann, ein Gespräch mit mir zu beginnen. Ich verstehe nicht, was er sagen will, höre Krieg und immer wieder »Druschba«, Freundschaft. Irgendwann kommt er auf den russischen Dichter Fjodor Dostojewski zu sprechen, warum auch immer. Ich steige ein und wir bringen mit der wiederholten Beschwörung Fjodor Dostojewskis unsere gemeinsame Verehrung zum Ausdruck. Dann begibt sich Wolodja – so hat er sich mir vorgestellt – wieder zu seiner warmen Schlafstelle über dem Gitterrost.
Später übersetzt mir jemand seine Worte, die ich auf Tonband festgehalten hatte: »Die Welt ist aus den Fugen geraten. Ich habe alles verloren. Meinen Traktor, meine Frau, meine Kinder. Ich hatte hier Arbeit auf dem Bau – 12 Stunden am Tag, 5 Euro die Stunde. Aber den Lohn der letzten drei Monate habe ich nicht mehr bekommen. Da wo ich umfalle, da schlafe ich ein.«
Morgens gegen 6:30 Uhr kriecht die Kälte so richtig in meinen Schlafsack und ich verabschiede mich von meinen ausgenüchterten Gastgebern, die mich anstarren, als hätten sie mich nie gesehen.
Ferne Silvesterknaller
Zum Jahresende ziehe ich nach Frankfurt weiter. Das dortige Containerlager für Obdachlose liegt im Ostpark an einem Bahndamm. Die über 50 Container stehen dicht an dicht, zu zwei Stockwerken gestapelt. Es ist 22:30 Uhr, der letzte Tag im Jahr. Ein jüngerer Wachhabender registriert meine Personalien und weist mir einen Schlafplatz in einem Container des ersten Stockwerks zu. Dort stehen zwei Doppelstockbetten in dem winzigen Raum, ein festgeschraubter Tisch, zwei Hocker für vier Personen. Ich komme mir vor wie in ein
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