Draußen wartet die Welt
»Ist schon gut«, sagte ich und versuchte, die Wut in meiner Stimme zu verbergen. »Ich weiß, wie das damals war.« Aber selbst als ich die Worte aussprach, wusste ich, dass ich niemals verstehen würde, wie eine Frau ihre eigene Schwester einfach aus ihrem Leben verbannen konnte.
Meine Mutter schüttelte den Kopf und in ihren Augen standen Tränen. Als sie sprach, lag ein Zittern in ihrer Stimme, das ich noch nie zuvor gehört hatte. »Es hätte aber nicht so sein müssen. Das weiß ich jetzt. Ich habe andere Menschen gesehen, die unter dem Bann stehen. Es gibt zwar gewisse Einschränkungen, aber sie sind trotzdem noch bei uns. Warum haben wir zugelassen, dass Beth uns verlässt?«
In jenem Moment betrachtete ich sie mit anderen Augen. Mit einem Mal war sie nicht mehr die Mutter, die versucht hatte, mich zu Hause festzuhalten, oder die Schwester, die sich von Beth abgewandt hatte. Sie war eine Frau, die ihre Traurigkeit jahrelang hinuntergeschluckt und mit Regeln und Strenge gegen ihre Gefühle anzukämpfen versucht hatte. »Tante Beth ist dir nicht böse«, sagte ich sanft. »Sie vermisst einfach nur alle, besonders dich. Sie ist so dankbar, dass du mich zu ihr geschickt hast.«
Meine Mutter schüttelte den Kopf und die Tränen strömten über ihre Wangen. »Dann ist sie eine barmherzige Frau«, schluchzte sie mit erstickter Stimme. »Ich war ihr keine gute Schwester.«
Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte.
Die Kellnerin stellte unsere Teller ab. Meine Mutter schob ihren zur Seite, stützte die Ellbogen auf den Tisch und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Es waren die tüchtigen Hände, die ich immer vor mir sah, wenn ich an meine Mutter dachte, mit ihren schlanken, von der Arbeit geröteten Fingern, die Nägel gerade abgeschnitten und stumpf. Ich ließ einen Augenblick verstreichen, bevor ich sprach.
»Weiß irgendjemand zu Hause, dass du dich mit Tante Beth triffst?«
»Dein Vater weiß es«, antwortete sie, wühlte in ihrem Korb nach einem Taschentuch und tupfte sich die Augen trocken. »Ich bin es leid, Geheimnisse zu haben.«
Ich atmete tief aus. Es war ein gutes Gefühl, zu wissen, dass mein Vater eingeweiht war. »Und was hat er dazu gesagt?«, fragte ich.
Sie lächelte. »Er hat gesagt: ›Richte meiner Schwägerin meine besten Wünsche aus.‹«
Eine Träne rann über meine Wange und ich wischte sie mit dem Handrücken weg.
Meine Mutter senkte den Kopf. Zu spät bemerkte ich, dass sie ein Tischgebet sprach. Ich schluckte das Stück Tomate hinunter, das ich mir gerade in den Mund geschoben hatte, und senkte ebenfalls den Kopf. Das alte Gebet rauschte durch meinen Kopf. Als ich wieder aufsah, lächelte meine Mutter mich an. Sie stieß ihre Gabel in den Salat. »Erzähl mir von Beth.«
»Wenn sie lacht, füllt ihr Lachen den ganzen Raum aus«, begann ich. »Und sie sieht dir direkt in die Augen, wenn sie mit dir spricht. So als seist du der einzige Mensch, an den sie in diesem Augenblick denkt.«
»So ist sie schon immer gewesen«, erwiderte meine Mutter. »Selbst in ihrer wildesten Jugendzeit, als wir keine Ahnung hatten, was wir mit ihr machen sollten.«
»Sie fühlt sich schlecht wegen dieser Zeit«, sagte ich. »Sie weiß, dass Grandma und Grandpa ihretwegen fast verrückt geworden sind.« Ich machte eine Pause, bevor ich hinzufügte: »Wissen sie es auch?«
Meine Mutter schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Aber ich glaube, ich werde es ihnen erzählen, wenn ich wieder zu Hause bin. Sie sprechen nie von Beth, aber sie hängen noch immer sehr an ihr. Ich weiß, dass sie oft an sie denken.«
Ich legte meine Hände auf die Tischkante und wappnete mich für das, was ich als Nächstes sagen würde.
»Mom«, begann ich.
Sie legte ihre Gabel hin und sah mir voller Erwartung direkt in die Augen. »Ja?«
»Ich habe dein Tagebuch gelesen.«
»Dann weißt du es also.«
»Ja.« Ich wollte noch etwas hinzufügen, aber ich konnte einfach keine passenden Worte finden. »Ja, ich weiß es.«
»Nun, ich habe ja gesagt, dass ich es leid bin, Geheimnisse zu haben.«
»Ich habe es Tante Beth nicht erzählt. Ich dachte, das solltest du selbst tun.«
Sie nickte. »Es ist meine Geschichte, und ich werde sie erzählen, wenn wir alle zusammen sind.« Dann fragte sie: »Werde ich bei … deiner Freundin Betty übernachten?« Wir mussten beide lachen, und es war ein Lachen, das mir durch sämtliche Glieder schoss. Ich konnte es in meinen Fingernägeln, in meinen Knien und in meinen Fußsohlen
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