Dreamboys 01 - Tigerjunge
Tigerdame bequemer wurde, so, als hätte sie ihren Teil zu Taruns Erziehung beigetragen und die Sache nun an uns übergeben.
Ach ja, die Erziehung! Zum Glück ergab sich vieles wie von selbst. Tarun war unglaublich lernbegierig. Wir mussten ihn nie drängen. Er saugte alles auf wie ein Schwamm, der jahrelang im Trockenen überdauert hatte und nun endlich genug Wasser bekam.
Bis zum Ende des Sommermonsuns, also etwa Mitte Oktober, konnte Tarun in ganzen Sätzen sprechen und sich gut mit uns verständigen. Wir begannen zu dieser Zeit, ihm Schreiben und Lesen beizubringen. Auch dabei stellte er sich sehr geschickt an. Sein Wortschatz erweiterte sich täglich. Er lernte sogar zusätzlich etwas Englisch und von Alain und Sanjay die Grundlagen der offiziellen Landessprache Oriya ohne große Mühe. Er zeigte eine phänomenale Sprachbegabung. Seine Stimme hatte inzwischen die Heiserkeit verloren und klang klar und melodisch. Irgendwann entdeckte er das Singen. Seine seltsamen, urtümlichen Melodien dachte er sich selbst aus. Alain nahm zahlreiche Videos auf, in denen Tarun sang.
Während Alain sich auf die wissenschaftliche Arbeit konzentrierte, fiel mir ja vereinbarungsgemäß die Aufgabe zu, Tarun die Welt zu erklären. Wie erklärt man einem wilden Waldwesen Strom? Wie einen Akku? Oder einen Computer? Oder auch nur ein Auto? Was ein Kind in vielen Jahren langsam verinnerlicht, stürmte auf den fast erwachsenen Tarun in ein paar Wochen als Crashkurs ein. Ich bedauerte es, dass wir im Camp kein Internet empfangen konnten. Das Netz mit seinen Millionen Bildern wäre gut geeignet gewesen, Tarun die Welt »draußen« näher zu bringen. So jedoch konnten wir ihm nur Fotos zeigen, die wir selbst gespeichert hatten, Fotos aus Baripada, aus Delhi, aus Frankreich und Deutschland. Stets betrachtete er sie aufmerksam. Wenn ich jedoch fragte, ob er denn einmal mit nach Baripada kommen wollte, schüttelte er den Kopf.
»Warum nicht, Tarun?«, fragte ich.
»Was soll ich da?«, fragte er zurück.
Wir ließen ihm also Zeit. Manchmal verschwand er für zwei oder drei Stunden im Dschungel, nie länger.
»Was hast du gemacht?«, erkundigte ich mich.
»Ich war im Wald«, sagte er. Mehr war ihm nicht zu entlocken.
Irgendwann musste ich ihm den Unterschied zwischen Frauen und Männern erklären. Er fragte danach, als er das erste Mal Fotos aus Baripada sah, auf denen junge Frauen in bunten Saris zu sehen waren. Eine unglaubliche Angst erfasste mich, dass er uns vielleicht doch nur liebte, weil er nichts anderes kannte. Ich beobachtete genau seinen Gesichtsausdruck, als ich eine hübsche, junge Frau heranzoomte. Würde er dieses sehnsüchtige, hungrige Glitzern in den Augen haben, das er immer zeigte, wenn er erregt war und mit uns Sex haben wollte?
Tarun starrte auf die Frau. Er zog die Brauen zusammen und sah mich dann an. »Warum sind sie anders als wir?«, fragte er.
»Es gibt nun einmal Männer und Frauen. Die meisten Männer haben mit Frauen Sex«, versuchte ich zu erklären. »Es ist das Übliche. Die Frauen bekommen dann Babys. Ohne sie gäbe es keine Kinder.«
»Hast du schon einmal mit Frauen Sex gehabt?« Er blickte mich forschend an.
Ich musste lächeln. »Nein«, sagte ich. »Noch nie. Nur mit Männern. Jeder zehnte oder jeder zwanzigste Mann auf der Welt hat lieber Sex mit Männern als mit Frauen.«
»Alain auch?«
Ich sah zu meinem Geliebten hinüber, der am Tisch saß und direkt in den Laptop protokollierte. Alain sah auf und schmunzelte. »Alain hat auch lieber Sex mit Männern!«, erklärte er bereitwillig. »Und ich habe einmal mit einer Frau geschlafen, vor vielen Jahren, aber es hat mir nicht gefallen. Und du, Tarun?« Anscheinend machte sich Alain die gleichen Gedanken wie ich!
Tarun antwortete, ohne nachzudenken: »Ich mag nur Männer. Ich habe schon Frauen gesehen, beim Baden, weit weg von hier, an einem anderen Bach. Sie waren nackt. Sie haben mir nicht gefallen.« Er lächelte uns beide an. »Aber ihr habt mir gleich gefallen! Ich habe euch schon lange zugesehen, ganz oft.«
Ein Stein fiel mir vom Herzen, und Alain anscheinend auch, denn er blickte kurz zu mir und lächelte dann zufrieden in sich hinein.
Am faszinierendsten waren unsere Gespräche über Taruns Vergangenheit. Wie es dazu gekommen war, dass er überhaupt von der Tigerin aufgezogen worden war, blieb naturgemäß leider im Dunkeln. Taruns erste Erinnerungen kreisten um die Höhle, um die Tigerin und das Fleisch, das sie anbrachte. Später
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