Drei Eichen (German Edition)
aus seiner Sicht zu schildern. »Ich sehe das so. Im Moment wird unsere Pippi Langstrumpf hier offiziell von niemandem vermisst, zumindest ist bei uns auf der Dienststelle noch keine Vermisstenmeldung eingegangen. Dafür könnte es mehrere Ursachen geben. Die Eltern könnten das Kind beispielsweise nicht vermissen, weil es woanders untergebracht war und dort noch nach ihm gesucht wird. Ein Zeltlager oder Ähnliches. Wenn das der Fall ist, sollte es nicht mehr lange dauern, bis sich jemand bei uns meldet. Die Eltern könnten aber auch, was ich nicht hoffe, einen schweren Unfall gehabt haben, der noch nicht bemerkt wurde. Anschließend ist das arme Ding durch die Gegend gelaufen, bis es Sie getroffen hat. Oder wir haben es mit einem Heimkind zu tun, das einfach nur ausgebüchst ist. In diesem Fall müsste eigentlich schon eine Vermisstenmeldung bei uns eingegangen sein.« Er machte eine beruhigende Geste mit seinen Händen. »Jedes Jahr verschwinden bundesweit über fünfzigtausend Kinder, und fast alle tauchen innerhalb kürzester Zeit wieder auf. Nur in den allerseltensten Fällen bleiben sie verschwunden.«
»Fünfzigtausend«, wiederholte die Landschaftsarchitektin verblüfft. Das war allerdings eine stattliche Zahl. Sie mochte gar nicht darüber nachdenken, was es für Gründe geben mochte, warum so viele Kinder in Deutschland aus ihrem familiären Umfeld flüchteten.
»Und dann gibt es noch eine letzte Möglichkeit, die für unsere Pippi hier zutreffen könnte. Es gibt tatsächlich Eltern, die ihre Kinder irgendwo aussetzen und das Weite suchen. Wenn das Mädchen beispielsweise gar nicht aus Deutschland stammt und unsere Sprache nicht versteht, könnte das auch der Grund sein, warum es nicht reden will.« Haderlein war mit seinem kriminalistischen Kurzvortrag am Ende.
Claudia Büchler schüttelte nur ungläubig den Kopf. »Und was machen wir jetzt?«, fragte sie den Kriminalkommissar, während sie das Kind noch stärker an sich drückte.
»Ich würde Folgendes vorschlagen«, sagte Haderlein nun doch entschlossen, »ich werde die Lage in der Dienststelle besprechen und dann umgehend einen Polizeipsychologen vorbeischicken. Das Jugendamt ist heute nicht zu erreichen, von dieser Seite können wir also keine Hilfe erwarten. Und vielleicht melden sich die Eltern ja auch innerhalb der nächsten Stunden und alles löst sich in Wohlgefallen auf. Wenn Sie mich fragen, ist das die wahrscheinlichste aller Möglichkeiten. Wie sieht es denn bei Ihnen aus, würden Sie das Kind noch etwas länger bei sich behalten? Sagen wir, erst einmal bis morgen früh, wenn sich bis dahin wider Erwarten niemand meldet?«
Claudia Büchler schaute ihn überrascht an. Darüber hatte sie noch gar nicht nachgedacht. Sie war davon ausgegangen, dass zwei verheulte Elternteile schon längst nach ihrer Tochter gesucht hatten. »Und was würde mit ihr passieren, wenn ich das nicht täte?«, fragte sie leicht verwirrt.
»Dann würde ein Psychologe das Kind erst einmal mitnehmen und übergangsweise im Heim unterbringen.«
Claudia Büchler konnte an Haderleins Gesicht sehen, dass der diese Lösung als suboptimal empfand. Sie holte tief Luft. »Na, dann bleibt Pippi eben bei mir, bis sich alles in Wohlgefallen aufgelöst hat, wie Sie es gerade eben so schön formuliert haben.« Sie spürte, wie sich das Kind enger an sie drückte. Ein eindeutiges Indiz dafür, dass das Mädchen sehr wohl verstand, was hier besprochen wurde.
»Das halte ich im Moment auch für die beste Idee, wenn ich ehrlich bin«, sagte Haderlein. Er bedankte sich bei ihr und gab ihr seine Visitenkarte. »Sie können mich immer unter dieser Nummer erreichen. Sollte ich nicht rangehen, dann jemand, der zumindest weiß, wo ich zu finden bin. Und machen Sie sich nicht zu viele Gedanken, Frau Büchler, die Chancen stehen gut, dass sich bis morgen alles geklärt hat.« Haderlein gab ihr die Hand und strich auch dem Mädchen noch einmal kurz über den Kopf.
Als der große und durchaus sympathische Polizist gegangen war, waren sie wieder allein. Claudia Büchler nahm den Kopf des Mädchens in ihre Hände und schaute ihm in die Augen. »Du brauchst einen Namen. Wenn du nicht reden willst oder kannst, ist das deine Sache, aber ich werde dich irgendwie ansprechen müssen, du Unglückswurm.« Sie überlegte einen kurzen Augenblick. »Der nette Mann von der Polizei hatte eine wirklich kluge Idee. Bis du mir etwas anderes erzählst, werde ich dich Pippi nennen. Der Name passt aber auch
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