Drei Frauen im R4
nahm mich in den Arm. Unter Tränen begann ich wild zu nicken, und dann fühlte ich Neles Hand auf meinem Rücken, wie sie mich streichelte und sanft beruhigte. Ein nasses Etwas, Fips’ Zunge, bohrte sich in mein freies Ohr.
»Ich weiß nicht, was ich habe«, schluchzte ich in meinen Ärmel. Ich hoffte darauf, dass meine Tränen nur ein ungünstiges Symptom meiner Wechseljahre waren.
Kapitel 8
Ma liberté
- Georges Moustaki -
»Kommt, wir bauen schnell das Zelt auf«, sagte Nele am nächsten Morgen voller Tatendrang, kaum dass sie die Augen geöffnet hatte. Mit dem Ärmel rieb sie die beschlagenen Scheiben frei. Ich hatte fast die ganze Nacht kein Auge zugetan, und wenn ich kurz eingenickt war, dann hatte ich wirres Zeug geträumt, in dem Knäckebrot mit Schmierwurst vorkam.
Der Ausschnitt aus meinem Tagebuch von 1981 hatte mir all die Träume und Hoffnungen vor Augen geführt, die ich einst für dieses Leben gehegt hatte. Die Sehnsüchte von damals hatten nichts mit meinem Alltag von heute zu tun. »Dem Leben eine Richtung geben«, hatte auf einem Plakat im damaligen Frauencafé gestanden. Damals hatte ich mit den Achseln gezuckt. Leben hat doch eine Richtung, hatte ich gedacht. Von der Möglichkeit, seine Ziele im Laufe der Zeit zu verlieren, hatte auf dem Plakat nichts gestanden. Nicht nur ich, auch Nele und Renate waren etwas von der Spur abgekommen. Was ist wohl von den Träumen meiner Jugend heute noch wahr? Ich nahm mir vor, das Ziehen in meinem Herzen ernst zu nehmen. Material für diese Spurensuche hatte ich genug, schon allein durch meine Tagebücher, die bis in das Jahr 1976 zurückgingen. »Da ist Feuer unterm Eis«, hörte ich Renate Ulla Meinecke summen, als wüsste sie, was ich gerade in mir wälzte. »… ich will nicht löschen, was zwischen uns brennt, doch zum Fallen hab ich kein Talent … und bin doch schon dabei.« Das Lied war natürlich ein Liebeslied, aber ich hörte den Text jetzt, als würde er zu mir sprechen. »Da ist Feuer unterm Eis …«
Ich hatte nur selten in den Tagebüchern geblättert. Etwas hatte mich gebremst, und nun wusste ich auch, was der Grund dieses Zögerns war. Der fünfzigste Geburtstag, ich grinste schon wieder ein bisschen, und dann wollte ich offenbar nicht mit meinem innersten Sehnen in Berührung kommen, um ja nicht bemerken zu müssen, wie sehr ich inzwischen an mir vorbeilebte. Natürlich hatten nicht alle jugendlichen Gedanken und Wünsche eine Bedeutung für das spätere Leben, aber das, was Nele mir in der Nacht vorgelesen hatte, war mir wie ein Pfeil ins Herz geschossen, und ich dachte: »Jetzt oder nie!« Der Blick in mein Tagebuch von 1981 hatte mich zutiefst berührt, denn da stand schwarz auf weiß, in noch kindlich runder Schrift die Idee, mit der ich einst ins Leben gezogen war. Ich hatte in den Spiegel meiner Sehnsucht schauen dürfen, und eigentlich, das hatte Nele mir erklärt, war es doch sehr schön und ein Geschenk, dass ich all das nachlesen konnte, wofür mein Herz dereinst geschlagen hatte.
»Die meisten von uns sind doch dazu gar nicht in der Lage«, meinte sie jetzt am Morgen, als ihr Blick auf all die Bücher, Flaschen und halbleeren Butterkeksstangen fiel. Sie pustete sich ein paar Krümel aus dem Ausschnitt. »Haben die mich heute Nacht gequält«, fühlte sie laut der Erleichterung nach. Dann sah sie wieder zu mir her. »Weißt du, du hast Glück. Du hast alles aufgeschrieben und kannst die alten Wünsche neu durchdenken. Ich würde mich auch gerne genauer erinnern können, was damals meine Sehnsüchte und Wünsche ans Leben waren. Deine Tagebücher sind ein Geschenk.«
Ja, obwohl mir mein Traum schon lange nicht mehr präsent gewesen war. Wenn überhaupt, dann hatte ich nur letzte Zuckungen davon in den Seminaren, die ich abhielt, zur Kenntnis genommen. Da stand ich dann vor einer kleinen Gruppe von Seminarteilnehmern und versuchte ihnen in unterhaltsamer Form Kommunikationsregeln und Zeitmanagement beizubringen. Mit meinem neuen geschärften Blick konnte ich auf einmal erkennen, dass die Seminare für mich eine Art Bühne gewesen waren.
»Warum habe ich es mit der Schauspielerei nicht wenigstens mal versucht?«, hatte ich in der vergangenen Nacht in die Runde gefragt.
»Weil du ein junges Mädchen warst«, klärte mich Renate auf. »Mensch, damals 1980, wie hättest du das deinen Eltern und Lehrern erklären sollen? Alle anderen Mädchen wollten Sparkassenangestellte, Arzthelferin und Krankenschwester werden. Dafür bist du
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