Drei Frauen und los: Roman (German Edition)
aufsammelten, las Rita im Wartezimmer des Zahnarztes einen Artikel. Sie erzählte Harry davon (in dem Bewusstsein, dass sie über sich selbst sprach, ohne persönlich zu werden. Das gebot schon der Selbstschutz). Der Artikel hatte sie beunruhigt. Sie musste einfach mit jemandem darüber reden. Sie wartete, bis sie ihm die Füße massiert hatte.
»Heute habe ich einen Artikel gelesen.«
»Wo?«, fragte Harry.
Rita zögerte. »Im Smithsonian. « Sie war nicht sicher, ob sich diese Zeitschrift auf seiner Liste genehmigter Periodika befand, aber offensichtlich war das der Fall, denn er wartete, dass sie weitersprach.
»Wusstest du, dass einige Einwanderer ihre Muttersprache vergessen, aber in der neuen Sprache nie flüssig sprechen lernen? Niemand kann in einer zweiten Sprache jemals so gut sprechen wie in der ersten. Bestimmte Gefühle und Gedanken können sie deshalb nie ausdrücken. Beim Lesen habe ich mich gefragt, ob sie diese Gefühle und Gedanken dann einfach irgendwann nicht mehr haben, oder ob ihnen nur die Sprache fehlt, um sie auszudrücken? Oder beides?«
»Was hat das denn mit Gott zu tun?«, fragte Harry.
Sie kam sich albern vor, weil sie das Thema überhaupt angesprochen hatte. Sie schimpfte sich dafür, weil sie so dumm gewesen war. Aber ihre Ängste blieben. Wenn sie nie aussprach, was sie dachte, wenn sie dauerhaft am Reden gehindert wurde, verlor sie dann allmählich die Fähigkeit, etwas zu beobachten und auszudrücken? Verlor sie auch ihre Gefühle und Gedanken? Konnte sie sich selbst verlieren? Würde Rita verschwinden und nur noch die Hülle einer Frau zurückbleiben? War das bereits geschehen?
Die Ängste wuchsen.
Sie dachte daran fortzugehen. Sie dachte an Flucht und daran zu retten, was von ihr noch übrig war.
Sie versuchte, diesen Wunsch zu verdrängen, und zwang sich, an Menschen zu denken, denen es noch schlechter ging – Kindbräute in Afghanistan, Leute, die in Darfur verhungerten. Außerdem waren ihr die Hände gebunden. Harry teilte ihr das Geld sorgfältig zu. Ihre MasterCard hatte ein Limit von zweihundert Dollar. Wie weit würde sie damit kommen?
Sie zog den Karton aus dem Schrank und begann wieder Gedichte zu lesen, romantische Dichter wie Keats, Shelley, Alfred Noyes, weil er »Der Kavalier mit der Maske« geschrieben hatte, ein Märchen über Leidenschaft und Sehnsucht, wie sie es nie erleben würde. Es gab noch andere Autoren, die sie sehr mochte: Tennyson, Yeats, weil er chao tisch und eindringlich war, und besonders Auden, wegen seiner Weisheit und wegen des Leids. Ein Gedicht von Au den liebte sie besonders. Die ersten Zeilen lauteten: »›Wohin willst du?‹, sagte der Leser zum Reiter , / ›Unheil birgt das Tal, wo die Hochöfen glühn.‹« Sein Thema war die Angst, der sie sich stellen wollte, oder, um es anders auszudrücken, es ging darum, tapfer zu sein, auch wenn das ganz außerhalb ihrer Möglichkeiten zu sein schien.
Sie las die Gedichte heimlich, wenn Harry nicht zu Hause war.
Sie begann davonzulaufen. Der Drang überfiel sie, und sie gehorchte ihm beinahe wie in Trance, wie einem unterbewussten Befehl, dem sie sich nicht widersetzen konnte. Sie zog ihren Ehering ab, legte ihn auf den Kaminsims, verließ das Haus und ging fort. Sie wünschte sich, die Welt wäre flach und sie käme irgendwann an einen Rand, von dem sie hinabspringen konnte.
Jedes Mal fand Harry sie irgendwann. Sie hörte, wie sich ein Auto näherte und langsam neben ihr fuhr. Ein kurzes Hupen. »Steig ein«, sagte er. Und sie stieg immer ein.
33
Als Tim am nächsten Sonntag ganz allein im Lion ist und gerade den Käfig geputzt und ausgespritzt hat, kommt Tracee hereingeschlendert. Sie kennt inzwischen Tims Tagesablauf und taucht auf, als er zum letzten Mal den Boden wischt.
»Hi«, sagt Tim.
»Willst du, dass wir es machen?«
Tim lässt den Mopp fallen. Er packt Tracee und fängt an, sie zu küssen, während er gleichzeitig versucht, sich und ihr das Hemd auszuziehen.
»Tim, warte.« Tracee schiebt ihn weg. Sein Überschwang verblüfft sie, und sie ist erstaunt, wie sehr die Chemie zwischen ihnen stimmt. Sie hat ganz weiche Knie.
»Was?«, fragt Tim.
»Ich hätte gern ein Bett.«
Tim packt sie an der Hand und zerrt sie über den Parkplatz zu seinem Auto. Er öffnet ihr die Tür, sie steigt ein, er schlägt die Tür zu, rennt hinüber auf die Fahrerseite, springt hinein und schießt wie mit einer Rakete davon.
Tim fährt wie ein Irrer. Er ignoriert eine rote Ampel, überholt
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