Drei Frauen und los: Roman (German Edition)
Haupt machen und nicht zum Schwanz.«
Als Rita Jahre später über alles nachdachte, auch über diesen Augenblick, begriff sie die Bedeutung dieses Bibelzitats. »Dich« meinte Menschen im Gegensatz zu Tieren. Menschen, die Menschheit, menschliche Wesen, Christen waren das Haupt und nicht der Schwanz. Aber nach Harrys Interpretation war er das Haupt und sie der Schwanz, und daher sollte sie ihre Ausbildung abbrechen und seine Frau werden. Was damals für sie eine Erleichterung war. Was hätte sie schon mit einem Collegeabschluss anfangen sollen? Wenn sie, wie sie es geplant hatte, Lehrerin wurde, würden ihr dann die Schüler auf der Nase herumtanzen? Konnte sie überhaupt laut genug sprechen, um gehört zu werden?
Sie war geschmeichelt und überrascht, dass er sie zur Frau wollte.
Ihre Mutter, die nie erwartet hatte, ihr einziges Kind, dieses Mauerblümchen, verheiratet zu sehen, brach in Tränen aus, als Rita ihr am Telefon von Harrys Heiratsantrag erzählte. »Ich hoffe, du hast Ja gesagt«, bemerkte ihr Vater.
Bei ihrer ersten Begegnung war sie erst seit Kurzem am College und saß in der Cafeteria vor einem Teller mit Hühnchen und Reis. Er fiel ihr auf, weil er eine so durchdringende Stimme hatte. Nicht dröhnend, aber mit einem hohen Timbre, das den Lärm durchdrang. Er saß immer mit derselben Gruppe junger Männer zusammen. Aus den Bibeln neben ihren Tabletts und der Tatsache, dass sie vor dem Essen den Tischsegen sprachen (was am Henderson ungewöhnlich, aber nicht ganz selten war), schloss Rita, dass alle angehende Pfarrer waren. Ihr Tisch stand auf dem Weg zur Geschirrrückgabe, und als er vorbeikam, blieb er stehen. Er hatte alles aufgegessen bis auf einen Apfel. Er fragte, ob es ihr gut gehe.
»Bestens«, sagte sie.
»Du sitzt allein.«
Sie hätte gerne gesagt: »Weil es mir so gefällt«, aber das traute sie sich nicht.
Als er ging, hatte er herausgefunden, in welchem Gebäude sie wohnte und dass sie Englisch studierte. Er gab ihr seinen Apfel.
Harry war kein schöner Mann, aber Rita, die graue Maus, wünschte sich auch keinen. Auf gut aussehende Männer wirkte sie ohnehin nicht anziehend. Harrys Gesicht war kantig, das Kinn so ausladend wie ein Schrank, die Nase breit und eher flach. Seine schmalen Augen lagen so tief in den Höhlen, dass sie von Schatten umgeben waren. Wenn er lächelte, sah er kaum freundlicher aus, sein Lächeln schien sich nicht in seine übrigen Gesichtszüge einzufügen (man fragte sich immer, ob er nun eigentlich lächelte oder nicht) und enthüllte zudem eine Reihe kleiner Zähne, die alle die gleiche Länge hatten. Einer der Vorderzähne war grau verfärbt. Obwohl Harry nicht freundlich wirkte, hatte er doch eine gewisse Ausstrahlung. Er ging aufrecht und mit entschlossenem Schritt. Rita hielt sich gern an seiner Seite. Es war, als hätte sie neben sich eine stählerne Stütze, an der sie sich nötigenfalls festhalten konnte. Allerdings schätzte Harry öffentliche Bekundungen von Zuneigung gar nicht. Daher war diese Unterstützung eher theoretisch als real. Er mochte Ritas Bescheidenheit, die auf Unsicherheit beruhte, auf ihrem Wunsch, möglichst nicht wahrgenommen zu werden. »Eitelkeit ist eine Sünde«, sagte er zu ihr und meinte es als Kompliment. Rita trug nur eine Spur von rosafarbenem Lippenstift und hielt ihr langes Haar mit einem weißen Plastikhaarreif aus dem Gesicht.
Dass Harry ihr beim ersten Kuss den Haarreif abnahm, war die romantischste Geste, die sie in all den gemeinsamen Jahren erlebte.
Sie trafen sich ab und zu auf einen Kaffee. Er zeigte ihr, was er geschrieben hatte, seine ersten Versuche, eine Predigt zu formulieren. Da er stets das Passiv verwendete, formulierte sie seine Sätze um und brachte ihm bei, wie er wirkungsvoller schreiben und sprechen konnte. (Später bewahrte sie seine sämtlichen Predigten nach Themen geordnet auf, und führte zudem eine – allerdings oft fehlerhafte – Liste nach Datum.) Sie gingen zu Gebetsfrühstücken, die Harry manchmal leitete, und an Samstagabenden zum gemeinsamen Liedersingen. Er füllte ihr Leben. Zum Geburtstag schenkte er ihr eine Schallplatte: Sister Mead, die das »Vaterunser« sang. Das Lied war unter den ersten zehn der Hitparade, und gläubige Christen wie Harry sahen bei diesem merkwürdigen Ereignis die Hand Gottes am Werk.
Harry hatte einen großen Traum. Er wollte Missionar werden und in Ghana Seelen retten. Als er Rita davon erzählte, glänzten seine Augen. Er fantasierte über die
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