Drei Zeichen sind ein Wort - Band 1
mein neues Bett und sondiere die Lage. Es ist etwas ganz anderes, hier sozusagen als Haustochter zu wohnen, vierundzwanzig Stunden am Tag am Leben der Familie teilzunehmen, statt, wie bisher, immer nur zeitweise anwesend zu sein.
Das braucht viel Fingerspitzengefühl.
Wie kriegt man es hin, dass man die Freiräume der anderen achtet und nicht zu intim wird? (Aber da, wo man gern intim wäre, nichts zu tun?)
Ich versuche, mich zu arrangieren.
Früh sehe ich zu, dass ich als Erste aufstehe und im Bad bin, damit mir keiner von den anderen in die Quere kommt. Dann frühstücke ich für mich allein, decke den Tisch und verlasse das Haus, bevor sich einer der Laskarows regt. Die erste Hürde ist genommen. Kein Schlomo, der unrasiert und glutäugig um mich herumschleicht, keine Mama, die uns mit Argusblicken bewacht. ImHotel Oberländer helfe ich den Theaterangestellten ein bisschen bei der Probenvorbereitung oder gehe mit Rosa, der alten Souffleuse, noch einmal meinen Text durch, bis, pünktlich auf die Minute, nun die Laskarows, die Herrschaften vom Spittelmarkt, eintreffen, meist in lautstarke Fachsimpelei verstrickt oder (Prinzipal und Madame) über Finanzielles redend.
Dann wird probiert und da gibt es nichts anderes. Von Tag zu Tag wachsen wir beide, Schlomo und ich, tiefer in unsere Rollen hinein. Wir versuchen, das dürre und oft hölzerne Gerüst des Stücks gleichsam mit grünem Laub zu versehen; das einfache Strickmuster aufzufüllen mit bunten und aufregenden Details. Unser Regisseur und Prinzipal sagt uns kaum etwas, höchstens wenn es um die Verknüpfung mit den anderen Szenen geht. Technische Einzelheiten. Ich glaube, Mendel Laskarow ist selbst erstaunt darüber, wie wir miteinander arbeiten.
Es ist das pure Vergnügen. Nie wieder versucht Schlomo, mir irgendetwas »aufzudrücken«, mich zu gängeln. Stattdessen gibt er mir klare und einfache Ratschläge, was das Handwerk der Schauspielerei angeht.
»Nicht schreien! Nie lauter werden, als dein Atem reicht! Du hast hier nicht mehr Luft in deinen Lungen als sonst auch. Halte Haus damit! Öffne deine Kehle! Lass die Luft über die Vokale hinströmen! Ganz sanft. Kein Druck!« (Er macht es mir vor.) »Es gibt nichts auf der Bühne, was du nicht aus dem Bauch heraus machen musst, außer du willst einen Hampelmann spielen!«
Es sind praktische Dinge, die mir ja fehlen, und so folge ich seinen Anweisungen aufs Wort. Einmal frage ich ihn: »Woher weißt du das alles?«
»Och«, sagt er. »Das kommt so mit der Zeit von allein. Schließlich mach ich so etwas seit meinem fünften Lebensjahr.«
Ich erinnere mich, was er mir erzählt hat, als wir gemeinsam im Magazin nach den Kostümen und Requisiten für unser Stück suchten.
»Hattest du überhaupt Zeit, mal zur Schule zu gehen?«, frage ich.
Er ist fast beleidigt. »Natürlich! Ich kann reden – gut reden! – und lesen und schreiben und Noten lesen. Und auf der Schul, beim Hebräischunterricht, war ich. Bloß bei den Naturwissenschaften hab ich immer lieber meine Rollen vor mich hergesagt ...«
»Hast du mal eine Zeit lang nicht gespielt?«
»Nie. Ich hätte schon mein zwanzigjähriges Bühnenjubiläum feiern können!« Er lacht.
Immer wieder sehe ich, dass der Prinzipal mit sorgenvollem Gesicht herumläuft. Es geht um die Miete! Mit den Waschkörben voll Papier ist es einfach nicht zu machen. Wie das Künstler-Theater weiter über die schweren Zeiten retten?
Dann hat er die zündende Idee! Wenn es nicht so ernst wäre, müsste man darüber lachen: Die Zuschauer bringen nun Brennmaterial mit – schließlich steht der Winter vor der Tür. Davon wird der Saal geheizt, ein Teil geht an den Besitzer als Miete, den Rest lässt Madame von der Kasse weg in die Schendelgasse bringen und im Schuppen neben dem Magazin stapeln: drei Briketts ins Zeitungspapier gewickelt für die hinteren Reihen. Für die besseren Plätze noch ein Bündel Kienholz oder ein Säckchen Koks drauf. Madame sitzt manchmal wie des Teufels rußiger Bruder in der Kassenhalle und wäscht sich, unterdrückt auf Jiddisch fluchend, anschließend in der Garderobe ihrer Männer den Kohlenstaub ab.
Das Geschäft läuft, der Bunte Abend, das »Zwischenstück«, ist ausverkauft. Von der Gasse aus schaue ich zu, wie der Heldendarsteller zum Jubel des Publikums einfältige Texte an der Rampe schmettert oder mit Fräulein Guttentag das Tanzbein schwingt zu so tiefsinnigen Aussagen wie: »Es gibt im Leben manches Mal Momente, wo man dies und
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