Drei Zeichen sind ein Wort - Band 1
Weg entlang, flüstert ihre Rolle vor sich hin, und sieht nicht rechts noch links. Seit sie die schlimme Sache mit dem Neuköllner Bäcker miterlebt hat, ist sie nur froh, wenn alles um sie herum normal ist.
Aber in den letzten Tagen kann sie nicht umhin, Veränderungen zu bemerken, ob sie will oder nicht. Denn genau das ist es auf einmal nicht mehr: normal. Es drängt sich ihr auf ... Etwas liegt in der Luft, etwas Unheilvolles.
Viel mehr Männer lungern auf dem Platz herum. Junge Männer, alte Männer. Und alle reden und reden.
Den Kragen der Joppe hochgeschlagen, Hut oder Mütze tief in die Stirn gezogen, die Hände in den Taschen, so stehen sie und reden miteinander, lauter, aufgeregter, als man das sonst kennt. Ihre Stimmen, grobe, drohende Stimmen, erfüllen die neblige Luft. Sie werfen fi nstere Blicke zu den angrenzenden Straßen hinüber; doch dort tut sich nichts.
Es ist, als hätten Scheunenviertel und das »andere Berlin«, das »deutsche Berlin«, irgendwie die Rollen getauscht. – Leonie sieht: In den sonst so lebhaften Gassen des Scheunenviertels spielt sich jetzt viel weniger als sonst ab. Zum Teil sind die Rollläden heruntergelassen, und Geschäfte, deren Tür sonst immer sperrangelweit offen steht und deren Besitzer mit weit ausladenden Gesten Kunden herbeilocken, bleiben nun geschlossen. Die kreischenden, zwischen den Passanten herumtobenden Kinder sind weg, offenbar auf die Hinterhöfe verbannt, und die bärtigen Männer mit den Schläfenlocken und den langen Kaftanen diskutieren nicht mehr imHauseingang. Einzig die Huren und die Ganoven der Grenadierstraße halten die Stellung.
Es ist unheimlich. Leonie sieht immer zu, dass sie ganz schnell wieder von den Straßen wegkommt.
Es geschehen die merkwürdigsten Dinge.
Eines Tages ist am Bülowplatz alles voller Polizei. An jeder Ecke stehen Doppelposten, die Hände ins Koppel gehakt, Schlagstock und Revolver an der Seite, die Tschakos mit dem Sturmriemen festgezurrt, bärbeißige Mienen. Sie sehen zum Fürchten aus, und Leonie weiß nicht, ob man sich von denen beschützt wissen möchte. Aber am nächsten Morgen ist weit und breit kein Schutzmann mehr zu erblicken, und diese Männer, die sich hier neuerdings versammeln, kommen zurück.
Immer mehr werden sie, auf einmal haben sie auch irgendwelche »Waffen«. Knüppel, Knotenstöcke, Hundepeitschen. Es ist gruslig. Vorher war es laut, aber jetzt liegt meistens eine bedrohliche Stille über dem Platz, trotz der vielen Menschen. Es ist, als würden sie auf irgendein Zeichen warten.
Leonie versucht, mit Mendel Laskarow darüber zu sprechen, aber der zuckt nur die Achseln.
»Puppchen, wenn ich anfangen würde, mir auszumalen, was vielleicht geschehen könnte in dieser Stadt, dann könnte ich nicht mehr schlafen. Es ist uralt – und wir Juden wissen: Was kommt, das kommt. Wir können’s sowieso nicht ändern.«
Was meint er damit? Leonie will nachfragen. Aber der alte Herr winkt nur ab.
Sie ist voller Unruhe. Alles ist so undurchschaubar, als wäre man in Watte gewickelt.
Und dann. Es ist Freitag, der Tag der »Sabbatvorstellung«.
Leonie weiß, der Bunte Abend hat schon um vier Uhr nachmittags angefangen, damit die Familien rechtzeitig bei Sonnenuntergang am Tisch sitzen können. Die Vorstellung ist zum ersten Mal halb leer. Der Prinzipal (wenn ihre gläubigen Zuschauer das wüssten, am Sabbat wird nicht gearbeitet!) hat für den Abend noch eine Probe für diebeiden Hauptdarsteller angesetzt. Sie können einfach nicht genug kriegen, der Darsteller des Bar Kochba und seine Dina ...
Sie ist auf dem Weg zur Spielstätte. Noch ist es nicht ganz dunkel, als sie aus der U-Bahn steigt.
Zu ihrer Verwunderung herrscht heute auf dem Bülowplatz Totenstille. Keine Menschenseele zu sehen, im Gegensatz zu dem Gewühl sonst.
Dann biegt sie in die Hirtenstraße ein, auch hier: niemand zu erblicken. Ihre Schritte hallen auf dem Pfl aster wider. Nicht einmal eine Katze ist unterwegs. Alle Türen und Fenster dicht. Nirgendwo brennt Licht. Sabbatruhe? Sie weiß, dass das anders aussieht. Da wird gesungen in alter fremdartiger Weise, da flackern in den Fenstern hinter den Vorhängen die Kerzen ...
Sie legt einen Schritt zu. Bloß schnell ins Hotel Oberländer an diesem unheimlichen Abend. (Wo man geborgen ist. Wo man alles andere vergisst, weil man Theater spielen kann.)
Der Wind bläst ihr ins Gesicht. Plötzlich hört sie aus der Gegend der Linienstraße, von Norden her, dumpfe, unheimliche Laute.
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