Drei Zeichen sind ein Wort - Band 1
auf uns warten – falls nicht noch etwas Dummes passiert ist.«
Leonie tastet nach seiner Hand.
Vorsichtig, nach allen Seiten Ausschau haltend, verlassen sie den Hof.
28
Kein Mensch scheint unterwegs zu sein.
Die Straße glitzert im spärlichen Licht jener wenigen Straßenlaternen, die der Zerstörung entgangen sind. Sie ist übersät von Glasscherben, die unter den Tritten knirschen. Nicht nur die Laternen sind zu Bruch gegangen, wohl auch alle Scheiben, die nicht durch hölzerne Läden oder Rollos gesichert waren.
Schwärzliche Schlieren am Boden. Blut? Leonie will es gar nicht wissen.
Langsam gewöhnen sich die Augen an das ungewisse Licht.
Es ist fleißig gemalt und geschrieben worden. Judensterne, aber auch hakennasige Gesichter mit verschlagenen Augen und dicken Lippen. Sprüche wie »Juden raus!« oder »Verrecke, Itzig!«, »Weg mit den Galiziern!«, »Fahrt zur Hölle, Schacherjuden!«
Einige Haustüren sind eingeschlagen oder eingetreten worden. Andere stehen einfach offen, die verängstigten Bewohner waren wohl den Weg des geringsten Widerstandes gegangen und hatten gleich aufgemacht. Keiner hat sich gewehrt ...
Zerstörte Möbel, zerrissene Bücher, zerschlagenes Porzellan in den Fluren.
Auf Bürgersteig und Straße liegen Kleidungsstücke. Frauenröcke, Unterwäsche. Das meiste ist mit Kot oder Dreck besudelt oder vollgepinkelt. Es stinkt rundum.
Haarbüschel, vom Wind gebeutelt, werden über das Pfl aster getrieben. Bärte? Frauenhaar? Im Rinnstein liegt ein zerbrochenes hölzernes Steckenpferd.
Leonie hält sich an Schlomos Hand fest. Sie wirft scheue Blicke in jeden dunklen Winkel.
Der junge Mann sieht starr geradeaus. Er geht mit großen, weitausholenden Schritten und bewegt die ganze Zeit die Lippen. Betet er? Memoriert er einen Text? Als sie schon fast am Hotel Oberländer angekommen sind, singt er leise und zornig vor sich hin. Sie kennt das Lied. »Una sañosa porfía.« Mit erbittertem Eifer verfolgen sie uns.
Isabelle hat gesagt, das Lied stammt aus der Zeit der Vertreibung aus Spanien. Mit erbittertem Eifer ...
Isabelle. All das Ferne, das Ungeheuerliche ihrer Visionen – es ist so schnell herangefl ogen wie eine Gewitterfront, ist auf einmal im Alltag angekommen. Was Leonie so fremd und so unvorstellbar schien: Hier ist es zu besichtigen.
Selde und Mendel Laskarow räumen auf seit einer Stunde: Der Prinzipal in Hemdsärmeln und seine Frau, die gepfl egte Frisur unter einem Kopftuch verborgen. Nachdem sie Adi Oberländer aus dem Keller geholt (»Die Luft ist rein, diese Mistkerle sind weg. Hej, wo ist euer Sohn?«) und ihnen dann eröffnet hat, was die ganze Sache kosten wird, haben die beiden sich schweigend an die Arbeit gemacht, sind zur Tagesordnung übergegangen.
Während der Chef des Hauses mit Schrubber und Wassereimer versucht, den von Eiern und matschigem Obst verdorbenen Hintergrundprospekt auf der Bühne zu reinigen, sortiert Madame aus, was im Kostümfundus dem Vandalismus zum Opfer gefallen ist. Mit unnachahmlicher Geste wirft sie gleichsam mit spitzen Fingern die völlig zerfetzten oder besudelten Kleidungsstücke in den linken der drei großen Waschkörbe, die auf der Bühne stehen. In den mittleren kommen die Stücke, die noch zu retten sind (waschen, flicken, aus zweien eins machen). Der dritte nimmt die noch unversehrten Teile auf. Schließlich erhebt Madame denn doch die Stimme. »Mendel! Wir müssen verschieben Premiere von ›Bar Kochba‹! Die Hälfte der Kledasche ist hinüber.«
»Verschieben wir nicht!«, kommt die Antwort von hinten.
Selde geht zu ihrem Mann. Steht und guckt, wie er sich abmüht; der ganze Schmutz hat die anfälligen Wasserfarben weitgehend ruiniert. Sie seufzt abgrundtief.
»Ob dem Jingel was passiert is da draußen?«, fragt sie leise.
Mendel schüttelt den Kopf, ohne seine Frau anzusehen, und taucht den Schrubber erneut in den Wassereimer. »Der hat das Massel gepachtet, sorg dich nicht.«
»Das sagst du so.«
»Weil’s so ist, Selde. Der Junge hat Massel.« Er versucht sich erneut an einem Eigelbfl eck (der Mob hat einen Teil der Hotelvorräte geplündert) und erreicht nur, dass noch mehr Farben zerlaufen. Unmutig stößt er den Schrubber zurück in den Eimer, unterdrückt einen Fluch.
»Nun ja«, sagt er. »Wir können ja bisher nicht klagen. Ist das erste Mal, dass es passiert, seit den Tagen meines Großvaters aus dem Elsass.«
»Bei meinem Vater war’s in Polen«, sagt Selde. »Als ich noch war ein Kind. Da
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