Drei Zeichen sind ein Wort - Band 1
Kleid aus schwarzer Atlasseide.
Leonie ist befangen an der Tür stehen geblieben. Nun geht ihr Gaston entgegen, führt sie mit der ihm eigenen gravitätischen Höflichkeit zum Platz, den sie von den Mittagessen kennt, rückt ihr den Stuhl.
Isabelle zündet indes die Kerzen an. Dann zieht sie sich einen Spitzenschal über den Kopf und hält sich die Hände vor die Augen, die Handfl ächen den Lichtern zugewandt, und spricht einen fremd klingenden Segensspruch. Ist es Ladino? Oder ist es Hebräisch?
Dann nimmt sie die Hände von den Augen und vollführt eine Geste, als würde sie das Licht nach allen Seiten im Raum verbreiten. Leonie begreift: Der Sabbat beginnt.
Nun scheint Gaston an der Reihe zu sein. Vor seinem Platz steht ein Silberpokal auf einer Untertasse.
Er gießt von dem Wein ein, so reichlich, dass er überfl ießt, hebt dann den Becher, lächelt Leonie zu und sagt auf Französisch: »Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der du die Frucht des Weinstocks erschaffen hast.« Danach bietet er erst Isabelle, dann Leonie einen Schluck aus dem Becher an, ehe er selbst trinkt.
Alles ist feierlich und fröhlich zugleich.
Und nun ist Leonie an der Reihe, sie weiß es, als Isabelle ihr mit aufmunterndem Kopfnicken den Teller mit den Mohnzöpfen zuschiebt und die Serviette lüftet.
Sie steht auf und ihre Aufregung weicht plötzlich einem Gefühl des Stolzes und der Freude. Sie hebt den Kopf und ihre Augen glänzen. Kaum spürt sie, dass Isabelle ihr den Spitzenschal über das Haar legt. »Was soll ich sagen?«, fragt sie. Gaston spricht ihr leise den Segensspruch vor, der nun gefordert wird, und sie streckt die Hände über den Challoth aus und wiederholt langsam, Wort für Wort, auf Deutsch: »Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der du Brot aus der Erde hervorbringst.«
(Drei Sprachen werden an diesem Tisch gesprochen.)
Als sie sich wieder setzt, fühlt sie sich ein bisschen schwindlig.
Isabelle hat inzwischen ein großes Silbermesser ergriffen und schneidet einen der Mohnzöpfe an, taucht die mundgerechten Stücke in das Salzfass und reicht sie dann den beiden anderen Teilnehmern des Festmahls.
Man kaut andächtig. Dann klatscht Isabelle in die Hände, löst die feierliche Stimmung auf, wie man eine Spinnwebe zerreißt, und kehrt zum Alltäglichen zurück. Schmunzelnd sagt sie: »So. Und nun wollen wir essen, was wir heute am frühen Nachmittag zusammengepanscht haben!« Sie steht auf und geht zur Küche.
»Du hast es sehr gut gemacht!«, lobt Gaston Leonie. »Sehr feierlich. Sehr überzeugend.«
Isabelle kommt gerade mit dem Servierwagen zurück, auf dem – erster Gang – die Hühnersuppe ihre Wohlgerüche im Raum verbreitet. Gaston entzündet in dem filigranen Aufbau jetzt eine Art Räucherwerk, das seine zarten Düfte mit denen des Essens vermischt.
Das festliche Mahl beginnt.
Und als das letzte Täubchen abgenagt und das Dessert verzehrt worden ist – nein, es war wirklich nicht zu viel gewesen, nicht nur Leonie, auch die beiden alten Leute hatten einen gesegneten Appetit entwickelt –, sagt Gaston: »Lass uns in den Salon gehen.« –
Die Fenster sind offen, aber man hat die grünen Vorhänge vorgezogen. Sie bewegen sich leise im Wind. Hier ist es hell und freundlich, Stehlampen mit Glasschirmen in jeder Ecke des Raums. Ein Nachtfalter hat sich nach drinnen verirrt und kreist ums Licht. Sie setzen sich. Kein Wein, kein Wasser.
»Also«, sagt Leonie. »Ich will es versuchen.«
Die beiden nicken.
»Drei Buchstaben, drei Zeichen«, sagt Isabelle. »Verstreut da und dort. Bring sie mir.« Es ist eine ruhige Forderung jetzt.
»Sag mir, was ich tun muss«, bittet Leonie.
»Deine Suche beginnt in Berlin. Vielleicht ist es ja zunächst viel einfacher, als du denkst. Vielleicht fi ndest du den ersten Buchstaben schon in einer Schublade bei dir zu Haus.«
»Bei mir zu Haus?« Bisher hatte sie noch keinen Gedanken daran verschwendet, wie diese Suche ablaufen, wo sie damit beginnen könnte – weil sie es nicht wollte. Jetzt wird ihr erst klar: Natürlich. Er könnte ja irgendwo unter den Sachen des Vaters sein, vergessen in irgendeiner Schublade! Vielleicht geht alles ganz schnell. Vielleicht erledigt es sich sozusagen nebenbei!
Gaston mischt sich ein. »Wenn dein Vater für den Wert des Zeichens Entschädigung verlangt, werden wir großzügig sein. Wie ich verstanden habe, geht es ihm materiell nicht so besonders gut. Da könnte man Abhilfe schaffen.«
Leonie
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