Drei Zeichen sind ein Wort - Band 1
glühen. Sie sitzt da, als wolle sie gleich auf und davon fliegen, ihre Hände hält sie mit gespreizten Fingern in Höhe der Schultern. »Das ist nicht möglich«, erwidert sie bestimmt. »Meine Berechnungen sind unfehlbar. Du bist es und du wirst es vollbringen.«
»Und wenn ich sie finde, und man weigert sich, sie mir zu geben?«
»Wenn du dich als eine Lasker ausweist, durch die hauchfeinen beiläufi gen Erkennungszeichen«, sie summt eines der Lieder – »durch Fuego y sapor, durch den Wahlspruch der Familie in Ladino: ›Con el pie derecho y al nombre del Dio‹, durch dein Wissen um unsere Familiengeschichte, dann wirst du erfolgreich sein. Diese Familie und das Judentum überhaupt bestehen nur deshalb noch, weil man sich erinnern kann.«
»Sich-Erinnern über die Zeit, in der man lebt, hinaus«, ergänzt Gaston leise.
»Und wenn du Erfolg hast«, übernimmt Isabelle jetzt wieder, »und wenn ich dann mein Werk getan habe – dann wird das noch andere Dinge nach sich ziehen. Gaston ist sehr reich und wir haben keine Kinder.«
»Belle!«, ermahnt ihr Mann sie. »Wir wollten solche Dinge nicht ansprechen. Wir wollten sie nicht ...!«
Die Augen der »Ahnfrau« leuchten. »Aber jetzt hat sie sich doch entschieden! Da kann man doch darüber sprechen!«
Leonie hebt die Hände an die Ohren. »Bitte hört auf! Das ist alles zu viel.«
Isabelle erhebt sich mit einer federnden Bewegung. Schmal und schwarz in ihrem Atlaskleid steht sie da, eine dunkle Flamme inmitten des hellen Raums. »Dann sollten wir nicht zögern«, sagt sie. »Du wolltest gestern nach Haus fahren, Leonie, und wolltest dich entziehen. Nun kannst du morgen fahren, entschlossen, es zu tun. Deine Ferien waren diesmal kurz, aber wenn du das nächste Mal nach Hermeneau kommst – mit dem ersten der Buchstaben –, dann wird es ein Fest werden für uns.« Sie sieht Leonie in die Augen. »Gott segne und bewahre dich, Tochter.«
Und so stehe ich nun erneut auf dem Bahnhof von Port Bou. Es ist wieder Nacht und ich warte auf den Zug nach Paris. Diesmal bleibt wenig Zeit bis zur Ankunft des Zuges. Wieder bin ich der einzige Fahrgast, der hier zusteigen will.
Rechts und links von mir sitzen Gaston und Isabelle, auf derselben Bank, wo ich das Gespräch mit dem alten Mann ge führt habe.
Wieder schrillen die Zikaden, wieder schwirren die Nachtfalter in unruhigem Flug um die schaukelnde Lampe. Wieder steht mein Koffer neben mir. Meinen Hut habe ich auf Hermeneau zurückgelassen.
Isabelle kramt in ihrer Handtasche. »Hier. Das hätten wir beinah vergessen. Die Buchstaben. Damit du sie denn auch erkennst.« Sie reicht mir ein Blatt mit drei großen, bizarr anmuten den Zeichen, die sie mit schwarzer Tusche aufgemalt hat. »Aleph – Mem – Taw«, erklärt sie. »Zusammen Emeth: Das hebräische Wort für Wahrheit. Ich weiß nicht, in welcher Reihenfolge du sie auffi nden wirst. Weiß nicht, welcher meiner Brüder welches Zeichen mitgenommen hat.«
Mir ist, als wenn ein geheimer Sog von den drei dunklen Chiffren ausgeht. Bin ich schon so sehr »angesteckt«? Schnell falte ich das Blatt und stecke es in meine Tasche. Neben mir redet Isabelle weiter.
»Ich bin sicher, nun wird alles gut. Du wirst fi nden, was zu finden ist, mit deinem Willen, deiner Kraft, etwas zu verknüpfen, deiner wachen Klugheit, deinem ›Mise en place‹ im Leben.«
Ein dumpfes Dröhnen aus dem Tunnelschlund unterbricht sie.
Eine Signalglocke ertönt. Die Station erwacht. Die vorher verschlossene Tür der Zollstelle öffnet sich, und die Beamten kommen heraus, wobei sie ihre Uniformen zuknöpfen, die Cépis aufsetzen, Koppel umschnallen und in die Handschuhe schlüpfen; der Zug kommt aus dem spanischen Barcelona.
Schnaufend und fauchend, taucht die große Überlandlokomotive aus dem Tunnel auf, umweht von Rauchschwaden wie ein vorzeitlicher Drache.
Gaston erhebt sich. »Wir haben keine Eile. Der Zoll muss erst die Waggons kontrollieren. Ich verhandle mit dem Schlafwagenschaffner, ob noch ein Bett frei ist!« Er muss gegen den Lärm die Stimme erheben.
Der Zug kommt zum Stehen, weißer Dampf entweicht zischend neben den Rädern. Die Schaffner öffnen die Türen, lassen von Hand die Trittbretter herunter. Gaston geht zu den Schlafwagen.
Auch Isabelle ist aufgestanden und ich mit ihr. Plötzlich fühle ich ihre Hand auf meinem Kopf. In leisem Singsang spricht sie: »Es segne dich der Ewige und behüte dich. Es lasse der Ewige sein Angesicht leuchten über dir und schenke dir
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