Dreibettzimmer: Roman (German Edition)
so ernst und anteilnehmend an, wie das nur Mediziner können. »Dazu wahrscheinlich pushende Getränke: Kaffee, Alkohol, vielleicht psychische Stressoren. Jetzt im Urlaub kommen Sie herunter. Da brauchen Sie sich nicht schwach zu fühlen. Ist ganz normal.«
»Was ist normal?«
»Sie hatten eine Angstattacke.«
Wie bitte? Eine Angstattacke? So etwas kriegen doch nur amerikanische Soldaten, die aus Afghanistan zurückkehren. Die Ärztin hat sie wohl selbst nicht mehr alle.
»Ich habe gedacht, ich sterbe.«
Sie nickt. »Ich weiß. Angst stammt noch aus der Urzeit, als wir vor wilden Tieren flüchten mussten. Das sympathische Nervensystem aktiviert Muskeln und Kreislauf und sorgt dafür, dass uns mehr Energie als sonst zur Verfügung steht, um zu fliehen oder zu kämpfen: Die Knie werden weich, der Puls geht hoch, Blut schießt in die Muskeln, Sie schwitzen. Und weil Sie nicht wissen, was da mit Ihnen passiert, deuten Sie die Symptome falsch. Sie denken: Mein Herz klopft schneller als sonst – und schon klopft es tatsächlich schneller. Angstpatienten geraten in einen Teufelskreis, den sie durchbrechen müssen.« Sie sieht mich eindringlich an.
Ich nicke. Ja, genau, Teufelskreis durchbrechen.
»Wie Ihnen geht es heutzutage vielen jungen Vätern im Angesicht der neuen Verantwortung.«
Das Zitat muss ich mir unbedingt aufschreiben. Ich sehe die Ärztin aufmerksam an. Darauf hat sie nur gewartet.
»Die schlimmste Form der Angstattacke ist die Panikattacke. Dabei können Sie sogar ohnmächtig werden. Dann schaltet das parasympathische Nervensystem mal kurz alles ab und sorgt für Erholung und Entspannung – vielleicht etwas radikal, aber völlig ungefährlich. Sind Sie in letzter Zeit ohnmächtig geworden?«
Wieder nicke ich. Dabei würde ich viel lieber entsetzt den Kopf schütteln. Ich, Caspar Hartmann, abgebrühter Journalist, bekennender Hedonist, Wolf unter Lämmern, soll aus Angst umgekippt sein? Angst wovor denn? Vor kleinen Kindern?
Okay, ich hatte beruflich viel um die Ohren, der Tinnitus, dann Nadine und ihre Familienphantasien und jetzt die große berufliche Chance, aber bis jetzt bin ich noch mit allem fertig geworden.
»Wie kann ich so etwas wieder loswerden?«, druckse ich herum.
»Medikamente oder Psychotherapie?«, will die Ärztin wissen.
Vor meinem inneren Auge sehe ich mich in der Lobby des »Wilden Mannle« auf der Chaiselongue liegen, hinter mir Psychologe Ainberger, der etwas in sein ledernes Familiencontestbüchlein notiert, während ich vor den anderen Gästen meine Bindungsangst gestehe.
»Medikamente, bitte.«
Sie geht zu einem Blechschrank und holt eine Tablettenpackung heraus. Wo bei Verdauungstabletten ein illustrierter Darm den Wirkungsbereich markiert, ziert hier ein stilisierter Kopf die Packung. Er ist mit einem schwammartigen Wulst gefüllt, der die zwei Gehirnhälften darstellen soll. Sie strahlen in hellem Rot.
Die Ärztin öffnet die Packung und drückt eine Tablette heraus. »Wenn Sie die genommen haben, sollten Sie kein Auto mehr fahren«, verordnet sie mit ernstem Blick. »Und seien Sie vorsichtig im Umgang mit Ihrer Nichte.«
»Leonie ist meine Tochter.«
Wieder dieser argwöhnische Profilerblick.
»Wie Sie meinen.«
Ich schlucke die Tablette hinunter und beschließe, niemandem von der Diagnose zu erzählen. Im Wartesaal will meine falsche Familie natürlich wissen, was die Ärztin gesagt hat.
»Kleine Lebensmittelvergiftung«, lüge ich.
Auf dem Rückweg ins Hotel schweigen wir. Seltsam, ich war mir vorhin ganz sicher, ich würde an Herzversagen sterben. So sicher, dass ich mich gefragt habe, was der Nachwelt von mir erhalten bleiben wird. Meine Artikel über den singenden Bäckermeister? Meine kurzen Affären? Meine meterlange Plattensammlung? Ganz sicher nicht. Der Bäckermeister wird verstummen, die Affären werden vergessen, die Plattensammlung verkauft.
Die Antwort auf diese Frage war kurz, klar und nicht unbedingt logisch: Leonie.
Beim Abendessen, diesmal wieder am Tisch von Frau Sommer, herrscht betretene Stille. Mein Malheur im Bällebad hat sich herumgesprochen. Wegen der traumatisierten Paula Fröhlich musste ich mit ihren Eltern reden.
»Wahrscheinlich wird sie nie wieder einem Erwachsenen winken«, vermutete ihr Vater grimmig.
Dabei habe ich mich bei ihm und Paula so umfangreich entschuldigt, wie ich es noch nie zuvor bei Menschen gemacht habe – nicht einmal, als ich nach einer durchfeierten Nacht versehentlich die Freundin meiner
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