Dreibettzimmer: Roman (German Edition)
Karte übernehme. Dann trägt er mir auf, einfach den schnellsten Weg zurück zum Hotel zu suchen und mich dabei »an der Mittagssonne zu orientieren«. Blöderweise ist die mittlerweile hinter dicken grauen Wolken verschwunden.
Nach einer halben Stunde kommen die ersten Schneeflocken. Als wäre dies ein Wettbewerb, fallen direkt danach die zweiten, und ehe wir uns versehen, liegt eine dünne Schneeschicht über den Wegmarkierungen. Nässe und Kälte kriechen durch unsere Fellmäntel, während wir uns schweigend Schritt für Schritt vorankämpfen. Vielleicht stimmt Adorés Karte ja doch, und wir sehen tatsächlich noch Yetis. Oder überhaupt irgendjemanden. Seit längerer Zeit sind uns keine Wanderer mehr entgegengekommen, schon gar keine Steinzeitmenschen.
Mr. Perfect trägt den verletzten Stanley mal auf dem Rücken, mal vor dem Bauch und mal wie ein Baby in beiden Armen. Er stapft mit zusammengebissenen Zähnen durch den Schnee, ächzt nur ab und an: »Wo entlang jetzt?«
Dann deute ich in irgendeine Richtung, in der es nicht weiter bergauf geht. Mittlerweile haben auch wir beide angefangen, aus dem Flachmann zu trinken, was zwar einigermaßen gegen die Kälte hilft, aber meinen Orientierungssinn nicht gerade schärft.
Obwohl ich die Karte trage, geht Mr. Perfect vor. Irgendwie scheint er den Weg zu kennen. Zwar müssten wir die Baumgrenze längst hinter uns gelassen haben, trotzdem laufen wir seit einiger Zeit durch einen Tannenwald.
Nach einer Kurve eröffnet sich vor uns ein Geröllfeld, das wir auf dem Hinweg definitiv nicht überquert haben. Mr. Perfect bleibt stehen und setzt Stanley behutsam unter einer Tanne ab. Der hat während der letzten halben Stunde nur gewimmert. Seit der Schnee fällt, zittert er wie Espenlaub, beharrt aber darauf, dass es ihm gut gehe. Doch auch wenn die Sonne nirgends zu sehen ist, kann ich erkennen, dass er schon dunkelblaue Lippen hat.
»Wir müssen eine Schutzhütte suchen und ihn aufwärmen, sonst erfriert er noch«, stellt Mr. Perfect fest. »Wie weit ist es bis zur nächsten?«
Ich werfe einen suchenden Blick auf das Papier. Leider hat Adoré von ihrer abenteuerlichen Karte auch die Schutzhütten entfernt. Ist aber auch egal, ich weiß schon seit Längerem nicht mehr, wo wir entlanglaufen.
»Tut mir leid, wir haben uns verirrt«, gestehe ich Mr. Perfect. Der schaut mich so verdutzt an, als hätte ich ihm gerade verkündet, dass ihn eine Klage wegen sexistischer Belästigung aller Frauen dieser Erde erwarte.
»Das ist nicht dein Ernst!«
»Ich wollte es dir früher sagen, aber ich habe gedacht, vielleicht finden wir den Weg noch.«
Mr. Perfect hebt die Faust und holt aus. Seine Stirnader ist angeschwollen. »Hier geht es um mein Leben, du Journalistenarsch! Nur weil du zu blöd bist, dich zurechtzufinden, können wir hier draußen erfrieren. Aber vorher würde ich dir gern noch die Fresse polieren.«
Sofort sind wir wieder in Duellstimmung. Ich weiß nicht, ob es am Karate liegt, am Alkohol, an der Wildnis oder einfach daran, dass mir der Typ gehörig auf die Eier geht. Vielleicht macht mich auch dieser Familienurlaub allmählich wahnsinnig, und ich werde genauso wie Mr. Perfect. Ich schaue mein Gegenüber spöttisch an und hebe die Fäuste. »Versuch’s doch!«
Wenn er mit rechts schlägt, werde ich ausweichen und ihm einen Schlag auf den Solarplexus verpassen. Er ist stark, da darf ich nicht in den Infight gehen.
»Hey!«, höre ich Stanley von der Seite rufen. Wir drehen unsere Köpfe. »Wenn ihr euch gegenseitig genug Respekt verschafft habt, könnt ihr eure Schwänze wieder einrollen und mich vielleicht etwas weiter da rübertragen?« Er deutet zu einer Felswand, wo sich ein paar Meter rechts von ihm eine Höhle abzeichnet. »Wenn ihr Glück habt, findet ihr darin bestimmt ein paar Bären, mit denen ihr euch prügeln könnt.«
Ich sehe Mr. Perfect an. Stanley hat recht. Hier geht es ums nackte Überleben, da ist kein Platz für männliche Eitelkeiten. Ich strecke Mr. Perfect die Hand entgegen. Er schaut mich verächtlich an, seine Augen funkeln so böse, dass ich selbst überrascht bin. Lag darin echte Mordlust? Mr. Perfect spuckt auf den Boden.
»Wasser sparen«, zische ich ihm zu, woraufhin er wütend gegen einen Zapfen tritt. Der fliegt direkt gegen Stanleys kaputten Fuß und löst einen Schmerzensschrei aus.
Während wir die Höhle von Zweigen und Gestrüpp befreien, hebt sich Stanleys Stimmung zusehends. Oder ist das schon der Fieberwahn? Nach dem
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