Dreikönigsmord (German Edition)
eigentlich fast alle Menschen, die ihr ganzes Sinnen auf den Erwerb von Macht und Geld richten. Deshalb wird er kaum das Risiko auf sich genommen haben, sein Seelenheil durch einen solchen Diebstahl aufs Spiel zu setzen.«
»Was ist mit der Beichte? Oder einer großen Stiftung für fromme Zwecke?«
»Meine Liebe …«, die Äbtissin lächelte ein wenig – so kam es Jo vor – wie eine geduldige Lehrerin, die es mit einer etwas begriffsstutzigen Schülerin zu tun hatte, »… für einen derartigen Reliquienfrevel würde ihm kein Priester die Absolution erteilen. Jedenfalls nicht ohne eine wirklich schwerwiegende Buße. Wie etwa eine Pilgerreise ins Heilige Land. Und um sich davon ›loskaufen‹ zu können, wie Ihr es andeutet, müsste Jörg Schreiber schon ein neues Kloster stiften. Wenn er also die Reliquien des Geldes wegen gestohlen hätte, hätte er davon keinerlei Gewinn. Womit sein Tun wiederum jeder Logik entbehren würde.«
Jo musste zugeben, dass die Argumente der alten Frau durchaus stichhaltig waren. »Aber was hat dies alles dann zu bedeuten?«, beharrte sie.
»Ich weiß es nicht.« Die Äbtissin seufzte. »Dieser Reliquienfrevel beunruhigt mich ehrlich gesagt genauso sehr wie die beiden Morde.« Im Licht der Kerzenflamme wirkte ihr raubvogelhaftes Gesicht plötzlich hart und besorgt.
»Nun, meine Prioritäten sind hier eindeutig andere.« Jo schüttelte den Kopf.
Das helle Läuten einer Glocke hallte über das Klostergelände.
Die Äbtissin griff wieder nach ihrer Krücke, die am Tisch lehnte. »Ihr entschuldigt mich … Die Vesper beginnt gleich. Wenn Ihr und der Wirt der Grünen Traube etwas Neues über die Morde oder über den Reliquienfrevel herausfindet, lasst es mich bitte so bald wie möglich wissen.«
Frustriert lenkte Jo den Schlitten zurück zur Stadt. Über dem Flusstal hing zäher Nebel. Zudem war es dämmrig. Auch als sie den Wald hinter sich gelassen hatte und durch die Weinberge fuhr, konnte sie kaum die Hand vor Augen sehen. Sie ließ die Zügel locker und den Braunen sich selbst seinen Weg suchen. Während er gemächlich ausschritt und dann und wann ein lautes, seufzendes Schnauben ausstieß, hing sie ihren Gedanken nach. Wenn die Äbtissin recht und Jörg Schreiber gar nichts mit dem Diebstahl der Reliquien zu tun hatte, waren sie und Lutz Jäger mit ihren Ermittlungen noch kein Stück weitergekommen.
Oder hatten die Morde und die Diebstähle etwa gar nichts miteinander zu tun, und tatsächlich handelte es sich um zwei völlig getrennte Fälle? Waren Anselm und Frowin etwa doch aus sexuellen Motiven getötet worden? Wie sollte es ihnen nur jemals gelingen, den Mord an den beiden aufzuklären? In einer Zeit, in der die Menschen glaubten, dass sich die Sonne um die Erde drehte, Reliquien anbeteten und ständig mit irgendwelchen Wundern rechneten – die sich in Wahrheit nie ereigneten?
Wenn das so weitergeht , dachte Jo düster, werde ich die nächsten Jahre als Inhaberin einer Weberei und eines Handelsgeschäfts in zugigen und dämmrigen Räumen verbringen. Bis mich dann eines Tages ein Blinddarmdurchbruch oder eine Blutvergiftung hinwegrafft.
Endlich hatte sie die Stadtmauer erreicht. Die Fackeln über dem Tor kämpften gegen die feuchte Luft an. Neben der Straße, die ins Zentrum führte, standen überall Menschen in kleinen Grüppchen zusammen. Andere hasteten in Richtung der Stadtmitte. Was für diese Tageszeit ungewöhnlich war. Ob etwas Schlimmes geschehen war?
Jo überlegte noch, ob sie anhalten und jemanden fragen sollte, als sie unter den Menschen ihren Kollegen erblickte. »Lutz!«, rief sie. »He, Wirt der Grünen Traube !« Ihre Reputation als achtbare Witwe hatte sie in diesem Moment völlig vergessen.
Lutz hörte sie und bahnte sich durch das Gedränge seinen Weg zu ihr. An seiner finsteren Miene erkannte Jo, dass ihre Ahnung sie nicht getrogen hatte. »Fahr zur anderen Seite der Stadt«, sagte er nur, während er sich neben sie auf den Sitz schwang. »Zur Waidbachgasse.«
»Ein weiterer Mord?«
»Ja.« Er nickte.
5. KAPITEL
ie Waidbachgasse befand sich am Rande der Stadt, wo die enge Bebauung des Zentrums sich ausdünnte. Gehöftartige Anwesen lagen zwischen Wiesen und kleinen Feldern. Auf einer dieser Wiesen war auch die Leiche gefunden worden.
Eine große Menschenmenge umlagerte den Tatort. Die Schaulustigen, die sich nach dem Mord an Frowin bei der Gertrudiskirche versammelt hatten, waren aufgeregt und neugierig gewesen. Hier, an der weitläufigen,
Weitere Kostenlose Bücher