Dreiländermord
einer gründlichen Untersuchung.
»Sie sind ein medizinisches Phänomen, Herr Böhnke. Das ruhige Landleben
ohne die Kriminalität bekommt Ihnen offensichtlich ausgesprochen gut.«
Mit einem festen Händedruck verabschiedete der Mediziner seinen Patienten,
der sich schneller auf der Straße wiederfand, als er zu hoffen geglaubt hatte. Das
ließ ihm mehr Zeit, sich auf seinen nächsten Arbeitsschritt vorzubereiten.
Wie er Gefferts Unterlagen entnommen hatte, stand wieder der Jahrestag
an, an dem das Mädchen bei Euskirchen tot aufgefunden worden war. Die Eltern hatten
erneut eine Anzeige in der Zeitung geschaltet und an ihre Tochter erinnert. Sie
hatten sich nach Böhnkes Anruf bereitwillig auf ein Gespräch mit ihm eingelassen.
Eindringlich hatte er sie vor zu großen Erwartungen gewarnt. Er würde
nur die Rechercheergebnisse eines Journalisten aufarbeiten, nicht aber die Ermittlungsarbeit
der Kripo fortsetzen.
»Auch wenn ich ein ehemaliger Kriminalkommissar bin, komme ich ausschließlich
als Privatperson ohne Befugnisse und ohne Rechte zu Ihnen.«
Das sei egal, wurde ihm beschieden. Hauptsache, irgendjemand würde
sich überhaupt noch kümmern, hatten die Eltern im ersten Telefonat gesagt.
Nun war es so weit. Böhnke hatte sich auf den Weg nach Stolberg gemacht,
um den alten Todesfall wieder neu aufzurollen.
Der Weg führte den Pensionisten in ein altes Siedlungsgebiet der ehemaligen
Kupferstadt in Bahnhofsnähe. Die kleinen Häuser gehörten Beschäftigten der ehemaligen
Industrieunternehmen im Umkreis, sie waren ebenso wie die maroden Unternehmen in
die Jahre gekommen und machten insgesamt einen wenig farbenfrohen Eindruck. Trist,
grau, düster – so wie sich die wirtschaftliche Situation der Stadt zwischen Aachen
und Eschweiler am Eifelrand gestaltete, dementsprechend sahen auch die niedrigen
Siedlungshäuser aus. Den Bereich um die prächtige Burg hatte die Stadt schon vor
vielen Jahren für die wenigen Touristen herausgeputzt, die sich ins Tal der Inde
verliefen. Sie waren durchaus begeistert von diesem historischen Ensemble mit dominierender
Burg, winkligen Gassen und winzigen Häusern aus Bruchstein in der Nähe des kleinen
Flusses. Doch bereits der Blick in die angrenzende Innenstadt mit den vielen leer
stehenden Geschäftslokalen ließ die Begeisterung für die Stadt abflauen, und jeder,
der einen Fuß in die alten, ausgelebten Arbeitersiedlungen in Bahnhofs-und Fabriknähe
setzte, verließ ernüchtert und erschrocken die ehemals stolze und reiche Stadt.
Nahezu als gestrandet bezeichnete Böhnke das ärmliche und dennoch sauber
gekleidete Ehepaar Fröschen, das ihn mit trüben Augen im Hauseingang erwartete.
Mit Unbehagen folgte er ihnen in das dunkle Gebäude und in eine Wohnküche mit altem
Mobiliar, in der die Frau des Hauses den Tisch festlich gedeckt hatte. Selbst gebackenen
Streuselkuchen und Schnellkaffee, wie Böhnke sofort erkannte, als er auf eine Sitzbank
rutschte, die mit einem durchgesessenen Stoff verkleidet war.
Die Eheleute, beide zwischen 50 und 60 Jahre alt, machten unbefangen
auf ihre Situation aufmerksam.
»Wir sind typische Hartz-IV-Empfänger, zu alt für den Arbeitsmarkt
und zu jung für die Rente, doch glücklicherweise schuldenfrei, sonst hätten die
uns unsere Hütte auch noch weggenommen. Aber das käme für die Arge teurer, wenn
die uns in eine Mietwohnung stecken müssten, wie wenn die uns hier lassen.« Der
Mann mit dem schütteren Haar und dem zerfurchten Gesicht winkte abfällig. »Wenn
du einmal da bist, wo wir sind, kannst du nur noch eines vom Leben erwarten: den
Tod.«
So schlimm sei es nun auch nicht, versuchte seine Ehefrau zu beschwichtigen.
»Es könnte uns viel schlechter gehen.« Sie schenkte
Böhnke ungefragt Kaffee ein, reichte ihm ein Stück Kuchen und griff ungeniert zu
einer Filterzigarette. »Mein Laster, davon komme ich einfach nicht los. Hat damals
angefangen, als Angelika, unsere einzige Tochter, verschwunden ist. Da habe ich
meine erste Zigarette geraucht. Jetzt bin ich nikotinsüchtig.«
Böhnke nippte nur an dem Kaffee und sah seine Befürchtungen übertroffen:
Das Getränk war nicht nur heiß, sondern auch extrem bitter. »Ich will nicht lange
um den heißen Brei herumreden. Sie wollen sich nicht damit abfinden, was mit Ihrer
Tochter passiert ist, und ich weiß nicht, was mit Ihrer Tochter passiert ist.« Außer
der Information, dass Angelikas Leiche im Hohlraum der nutzlosen Autobahnbrücke
entdeckt worden war, wusste er
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