Dreiländermord
Hang verschwinden.
Oder was meinen Sie?«
Böhnke schwieg. Er hatte interessiert auf die Stelle geschaut, an der
er geradeaus in den Wald gefahren war. Und er hatte zuvor wieder das Kreuz im Wald
gesehen. Für ihn war es wohl ein Glückssymbol gewesen. Doch jetzt war es vorbei.
Er hatte die Sache überstanden und würde nun alles daran setzen, denjenigen zu finden,
der ihn töten wollte.
»Wie lange müssen wir noch?« Er wollte endlich zum eigentlichen Anlass
ihrer Fahrt kommen.
»Zehn Minuten«, antwortete Megrette, und lag mit seiner Zeiteinschätzung
richtig. Genau zehn Minuten später stellte er seinen Wagen vor einem Kelmiser Mehrfamilienhaus
in einer Nebenstraße ab. Die Zweisprachigkeit der Schilder, quasi nur einen Steinwurf
von der deutschen Grenze entfernt, begeisterte Böhnke. Kelmis – La Calamine, man
sprach deutsch und französisch. Hier war Europa mehr vereint als es jede Politik
schaffen konnte.
»Hier ist übrigens die französische Sprache stärker vertreten als südlicher
im Bereich Eupen«, informiert ihn Megrette, während sie sich dem Haus näherten,
»obwohl wir hier viel näher an Aachen sind.« Er nestelte an seinem Schlüsselbund.
»Keine Sorge«, kommentierte er Böhnkes verwunderten Blick. »Ich habe die offizielle
Erlaubnis, die Angelegenheit mit dem Nachlass zu regeln. Es ist alles klar: Selbstmord.
Da springt der Ermittlungsapparat nicht an.« Er gab sich keine Mühe, die Ironie
in seiner Stimme zu verstecken. »Treten Sie ein und machen Sie sich selbst ein Bild!«,
forderte Megrette seinen Gast auf, vor ihm in die Wohnung einzutreten. Er bekreuzigte
sich schnell. »Möge Paul seinen Frieden haben.«
Wenn er nicht gewusst hätte, dass in dieser modernen Mietwohnung ein
Geistlicher gelebt hatte, hätte Böhnke es nicht geglaubt. Rein gar nichts deutete
auf einen Mieter hin, der von Berufs wegen allem Weltlichen entsagt hatte. Im Gegenteil,
die Wohnung war ein Symbol für pralles Leben. Helle Farben und durchaus nicht prüde
zu nennende Bilder prägten die Räume. Zeichen einer Religiosität fehlten gänzlich,
sah Böhnke einmal von dem Kruzifix ab, das, wie in vielen Wohnungen und Häusern,
über der Eingangstür hing.
Hemmungen, ungeniert in den Schränken und Truhen zu stöbern, in der
Wäsche des Wohnungsinhabers zu wühlen oder dessen Akten zu lesen, hatte Böhnke längst
nicht mehr. Es hatte schließlich zu seinem Beruf gehört, in den Hinterlassenschaften
nach Spuren zu suchen.
Aber wonach suchte er eigentlich? Fragend sah er Megrette an, der sich
lässig am Türrahmen des Arbeitszimmers angelehnt hatte, während Böhnke unschlüssig
vor dem Schreibtisch stand. Nicht, dass er sich nicht getraut hätte, er wusste nur
nicht, warum er in den Papieren auf und im Schreibtisch lesen sollte.
»Am besten wird es sein, wir fangen von vorne an«, ließ sich Megrette
vernehmen. »Und vorne heißt in diesem Falle, mit dem Selbstmord des Pfarrers.« Er
machte sich auf den Weg zum Schlafzimmer, in dem wie selbstverständlich ein breites
Doppelbett den meisten Platz einnahm.
»Hier haben wir den Pastor gefunden. Wie gesagt,
Paul Moulin lag nackt auf seinem Bett. Über seinen Kopf hatte er eine Plastiktüte
gestülpt, die mit einer Leine um den Hals verschnürt war. Die beiden Enden der Leine
hatte er mit Schlingen an seinen Handgelenken befestigt. Er hat sich damit quasi
selbst stranguliert. Als die Luft in der Tüte verbraucht war, ist er erstickt. Jedoch
dürfte er davon nicht mehr viel mitbekommen haben. Er hatte sich mit Alkohol und
Tabletten betäubt. Ehe deren Wirkung eintrat, hat er die Tüte und die Leine für
seine Zwecke gebraucht.« Megrette schüttelte sich. Die Schnapsflasche und die Tablettenröllchen
habe er neben dem Bett gefunden. »War eine spektakuläre Art, aus dem Leben zu scheiden
und dazuliegen wie der Gekreuzigte.«
»Und es war eindeutig Selbstmord?«
»Eindeutiger geht es gar nicht. Wir haben keinerlei Spuren oder Hinweise
auf einen Helfer oder gar Täter gefunden. Dieser Selbstmord war so gewollt, wie
er durchgeführt wurde. Die allerletzten Zweifel hat der Abschiedsbrief zerstreut.«
»Schön und gut«, sagte Böhnke nachdenklich. »Und was soll ich damit
zu tun haben?«
»Oh, wahrscheinlich mehr, als Sie denken, verehrter Kollege«, ließ
sich Megrette aufreizend lässig vernehmen. »Die Leine, die der Pastor benutzte,
ist eine rote Wäscheleine, abgeschnitten von einer Rolle, die sich in der Garage
befindet.«
Böhnke stutzte. Wäscheleine, rot,
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