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Drop City

Drop City

Titel: Drop City Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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öfter ausging –, doch sie war da anderer Ansicht. Sie alle kapierten eines nicht – Fred konnte es nicht einmal ansatzweise erfassen –, nämlich daß ihr gesamter Lebensraum, die ganze gewalttätige, kriegslüsterne Gesellschaft auf der Kippe stand und demnächst zusammenbrechen würde. In dieser Hinsicht hegte sie nicht den geringsten Zweifel. Die Unruhen auf den Straßen waren ja nur ein Vorgeplänkel von dem, was kommen würde, denn wenn niemand mehr arbeitete und alle nur herumhingen, Drogen nahmen und den ganzen Tag quer durch die Betten bumsten, wer würde dann die Nahrung anbauen? Und wenn keiner Nahrung anbaute, was sollten sie dann essen? Für sie lag die Antwort auf der Hand: sie würden sich über ihr Essen hermachen, und danach würden sie sich über sie hermachen, genau wie in dieser Science-fiction-Geschichte, wo die Toten und die Sterbenden zu Konservenfleisch verarbeitet wurden. Garantiert. Aber natürlich konnte jeder auch im funkelnagelneuen Auto ins Büro fahren, nachher einkaufen gehen und abends nach Hause kommen, zu Gasheizung und gemütlichem Holzofen, ohne je länger darüber nachzudenken, und genau dort würden die Fred Stines dieser Welt hocken, wenn alles zusammenbrach. Aber sie nicht, nicht Pamela. Sie würde draußen in der Wildnis leben, und sie würde einhundert Prozent ihres Nahrungsbedarfs selbst decken. Alles andere war für sie eine Spielart des Selbstmords.
    Am Nachmittag des zweiten Tages, nach dem Frühstück und der Umarmung, die zum Clinch und dann zu einem Kuß wurde, der sich hinzog, bis ihr das Blut in den Ohren brauste, unternahm Sess mit ihr einen Rundgang über das Gelände, zeigte sein Land. Er demonstrierte ihr die Klarheit des Thirtymile, wo er sich kraftvoll in den trüben Yukon ergoß, der seine Fracht von Gletscherabraum mit sich führte, er zeigte ihr, wo er die Sauna und die Werkstätte plante, hielt ihr Vorträge über den Garten, dessen Grün durch die schwarze Plastikfolie wucherte, mit der er die Wärme auf die Beete bannte. Er baute Kohlrabi, Wirsingkohl, Blumenkohl, Rosenkohl, Rüben, Kartoffeln, Zwiebeln, Erbsen, Salat, Eiertomaten, Basilikum, Gurken und Kürbisse an. »Zum ersten Juni muß alles in der Erde sein«, belehrte er sie, »obwohl immer die Gefahr eines späten Frosts besteht, und deshalb hab ich auch das Holz da drüben aufgestapelt, nur so zur Sicherheit, denn wir haben hier nur eine Kultursaison von rund einhundertfünf Tagen, und da spielt schon der Fluß eine Rolle, weil er uns den Frost ein wenig vom Hals hält, aber jeder Tag zählt, glaub’s mir, und so gegen Ende Februar würde man alles geben für ein Glas eingelegten Kohl oder getrocknete Tomaten, zur sechstausendsten Portion Elch ...«
    Sie hörte ihm zu, denn dieses Wissen brauchte sie, in diesen Dingen mußte sie sattelfest und bewandert sein, dennoch ging das meiste von dem, was er sagte, an ihr vorbei – sie lauschte seiner Stimme, nicht den Worten. Seine Stimme hypnotisierte sie auf eine Weise, die sie bei Fred Stines nie verspürt hatte. Sie sprach zu ihr in einem Tonfall, der sie durchströmte wie ein breiter Fluß, wie ein elektrischer Schlag in einer Steckdose oder von der Lampe mit Wackelkontakt, die sie als Collegestudentin amateurhaft repariert hatte. Er redete – und jetzt war er überhaupt nicht mehr schüchtern, kein bißchen –, und sie hörte zu. »So«, sagte er irgendwann, sie standen unten am Wasser und starrten in das Kanu, »wollen wir jetzt ein bißchen paddeln und mal sehen, was wir zum Abendessen aufscheuchen können? Magst du zum Beispiel Ente? Ente mit Jungzwiebeln und einem Schuß von der selbstgemachten Extra-Super-Spezial-Gewürzsauce à la Sess Harder?«
    Unter dem Kanu verwandelten sich die runden Steinchen in kecke Wölkchen, die Fische wurden zu den schwarzen Silhouetten vorbeifliegender Vögel. Sie war mit Sess Harder auf dem Fluß, mit Sess Harder in der Wildnis, und sie liebte auf einmal alles. Sie paddelten angestrengt, stromaufwärts, gegen einen leichten Wind. Sie spürte sein Gewicht hinter sich, das Kanu war wie eine Wippe auf einem Spielplatz aus Wasser, und sie fühlte die Kraft seines Paddels, während sie Felsen und umgestürzten Bäumen auswichen und geschickt kleinere Stromschnellen querten, wo das Wasser plötzlich brodelte. Es erforderte hohe Konzentration, und zum erstenmal, seit er gestern nachmittag auf die Terrasse des Restaurants hinausgetreten war, hatte keiner von beiden das Bedürfnis zu sprechen. Erst als sie eine

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