Drop City
Jill für das Leben in der Wildnis einfach nicht geschaffen – in psychologischer Hinsicht. Sobald der Winter hereinbrach und die Sonne sich verabschiedete, ging sie die Wände hoch, und man hätte meinen können, sie sei im Gefängnis, verhört, verurteilt und gegen ihren Willen eingesperrt. »Ich habe hier lebenslänglich«, sagte sie in einem Tonfall, der wie eingeäschert klang, »ich komme nie wieder raus. Wie ein Sträfling in San Quentin.« Er war draußen in der Natur, selbst in der schlimmsten Kälte, belauerte in den Wäldern Schneehühner, Stachelschweine, Luchse oder sonst irgendwas für den Kochtopf, sie aber saß nur vor dem Ofen und starrte in die Glut, las dieselben Bücher immer wieder – sie mußte George Eliots Silas Marner an die zwanzigmal durchgeackert haben, und das hätte wohl jeden umgehauen. Sie spielte mit sich selbst Patience, bis die Karten total abgenutzt waren. Und dann fing sie an, die verbleibenden Tage in die Wand einzukratzen: vier vertikale Markierungen und ein Querstrich, genau wie einHäftling.
Pamela ließ ihn weiterreden. Es war therapeutisch, das spürte sie, und das hier mußte raus, denn wenn alles richtig lief, würde sie den Platz dieser Frau einnehmen, und es wäre geradezu unerträglich, ihre Geschichte nicht zu kennen. Trotzdem, als er ihr von den Abzählstrichen an der Wand erzählte, stand er auf und beugte sich über sie, um mit den Fingern über die Rundung des Baumstamms zu fahren, an dem ihr Kopf lehnte, und da waren sie, wie Narben in einer wunden Haut: die Kerben der Verzweiflung. Ihre beste Strategie bestand im Auswerfen eines Rettungsseils, an das sie sich gleich klammerte: »Also hatte sie eine richtige Depression, im klinischen Sinn?«
»Hüttenkoller«, sagte er und sank neben ihr in die Pelze, »ziemlich schlimm sogar.« Sie reichte ihm ihre Hand, aber er ergriff sie nicht. »Passiert vielen hier draußen. Besonders Frauen. Frauen brauchen offenbar die Gesellschaft von anderen Frauen mehr, als Männer andere Männer brauchen – wir sind eher Einsiedler. Eremiten von Natur aus. Aber ihr – ihr müßt ja immer tratschen und so, stimmt’s?«
Sie zuckte die Achseln. »Gut möglich.«
»Natürlich können die Männer hier auch ganz schön ins Spinnen kommen. Kennst du schon den von den beiden Trappern im Hochland bei Eagle Village? Zwei echte Käuze, die Sorte, die mit sich selber sprechen, wenn sie alle halbe Jahre mal in der Stadt sind. Nein? Na, jedenfalls, es war Februar in einem bitterkalten Winter, und der eine brauchte so dringend Gesellschaft, daß er seine Hunde anschirrte und die fünfzig Kilometer zu dem anderen hinüberfuhr, und der trat in die Tür seines Häuschens, nickte ihm einladend zu, ging wieder rein und ließ die Tür einen Spaltbreit offen. Also versorgte der erste zunächst mal seine Hunde und trat dann wortlos ein, klopfte seinen Parka ab, setzte sich auf einen Stuhl ans Feuer, sah den anderen einfach nur eine Stunde lang oder so an, dann setzte der einen Elcheintopf aufs Feuer, und sie aßen schweigend miteinander. Dann rauchten sie gemütlich ein Pfeifchen, und als es Zeit wurde, ins Bett zu gehen, rollte der erste seinen Schlafsack auf dem Boden aus und knackte weg. Am Morgen frühstückten sie gemeinsam – noch mal Elcheintopf, dazu Kekse und Kaffee –, und dann ging der erste wieder raus, spannte seine Hunde vor den Schlitten und winkte dem anderen zum Abschied, der in der Tür stand und ihm nachsah. Und weißt du was? Keiner von beiden hat die ganze Zeit über ein einziges Wort gesagt, weder ›Hallo‹ noch ›Wiedersehen‹, weder ›Schmeckt verdammt gut‹ noch ›Ich kann dein häßliches Pennergesicht nicht mehr sehen, du Dreckskerl‹.«
»Lehrreiche Geschichte«, sagte sie. »Willst du mir Angst einjagen?«
Sess wirkte überrascht. »Nein, überhaupt nicht. Warum sollte ich das denn tun?«
»Also, Jill«, sagte sie nach einer Pause. »Sie ist also gegangen?«
Der Ofen ächzte und zischte. Die letzte Sonne verlieh der hinteren Wand einen hauchzarten, verwaschenen Rosaton. »Was hast du denn gehört?« Die Frage blieb ihm fast in der Kehle stecken. »Daß ich so eine Art Blaubart bin, oder was?«
Sie vertraute ihm. Sie mochte ihn. Sie könnte ihn sogar lieben – nein, sie liebte ihn, liebte ihn schon jetzt. »Nein«, sagte sie so leise, daß sie sich kaum selbst hören konnte.
»Du weißt doch, wie ich dir vorhin den Garten gezeigt habe?«
Sie nickte.
»Jill ging hinaus, wo wir die Bäume gerodet hatten,
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