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Drop City

Drop City

Titel: Drop City Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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allmählich zurückschaltete, durch alle Tempostufen hindurch, erst Schnellgang, dann Kriechgang, bis zum Leerlauf.
    Später – es mochten fünf Minuten vergangen sein oder fünf Stunden, sie hatte keine Ahnung – raffte sie sich auf und sah sich um. Auf der Brüstung saß eine Libelle, ein Strich aus elektrischer Farbe, wie ein eingeschlagener blauer Nagel, und darunter sah sie das Einbauregal mit den flammendbunten Rücken der Bücher, die Marco angesammelt hatte – Eldridge Cleavers Seele auf Eis , die Fiktionen von Borges, Katzenwiege, Forellenfischen in Amerika, Steppenwolf –, und eine Campinglampe, deren Kartusche so grellgrün war, daß sie geradezu ein Loch in die Wand schnitt. Die Bücher brannten von innen her. Sie zog eins heraus, wie zufällig, nur wegen der Farbe und um es zu fühlen, und sie öffnete es, sah Worte, die über die Buchseite kreuzten wie Schiffe auf einer vergifteten See. Sie konnte ihnen keinen Sinn entnehmen, wollte es gar nicht, haßte in diesem Augenblick den Grundgedanken von Büchern, von Literatur, von Geschichten – denn Geschichten waren ja unwahr, oder? –, aber die Bücher erinnerten sie an Marco, und deshalb waren sie gut und lieb und wertvoll, und sie streichelte das vertraute Objekt wie eine Katze oder ein Kaninchen, streichelte es, bis das Papier zu Pelz wurde und die lebendige Wärme ihre Fingerspitzen erfaßte.
    Leise Geräusche drangen an ihr Ohr, als wären sie aus ihrem Körper gestiegen – ein Husten, ein Kichern, ein Seufzer, das sanfte kehlige Keuchen von Jiminys Atem, der im unteren Schlafzimmer des großen Hauses rund hundert Meter weiter weg rhythmisch gegen Merrys schweißnasse Haut klatschte. Sie konnte die Blätter atmen und den Saft in den Ästen pulsieren hören wie Blut, langsames, zähflüssiges Blut. Termiten knisterten im Laub, die Hufe der Ziegen wuchsen und vergrößerten sich mit einem knackenden Geräusch, das ihr in den Ohren toste und brodelte. Dann materialisierte sich das Buch, das sie in der Hand hatte, in einem Gewirbel von Farben, Rosa und Gelb, in ein einzelnes Menschenauge, das sie aus dem Titelblatt anstarrte, und sie erkannte es sofort: Ende des Spiels und andere Erzählungen von Julio Cortázar. Auf dieses Buch hatte sie Ronnie gebracht, damals in New York, und sie hatte es ihrerseits Marco gekauft – da war auch der Stempel des Secondhand-Buchladens in Sebastopol, Freewheelin’ Books, 25 c , als verblichener rosa Abdruck auf der Innenseite. Na schön. Wenigstens hatte sie das, und obwohl die Wörter immer noch nicht mitspielten, obwohl sie sich auf der Seite gruppierten und umgruppierten, hierhin taumelten und dorthin torkelten, und obwohl jeder Mund im Wald ihr mit winzigen Stimmchen seine Botschaft ins Ohr brabbelte, bis es ein chaotisches weißes Rauschen war, kannte sie die Geschichten im Traum, träumte von Axolotln und von dem Mann, der Kaninchen spuckte, deshalb tat sie es, deshalb mußte sie alle Bücher aus dem Regal ziehen, eines nach dem anderen, und sich von den Geschichten einnehmen lassen.
    Dann stieg sie hinunter aus dem Baum, barfuß in den scharfen Blättern, sie ließ eine ganze Ladung von Büchern fallen wie eine bunte Saat, denn so hatten sie sie auch gefunden, sie und Marco, an jenem dichten, heißen, verschwitzten Nachmittag, der losging wie eine Zeitbombe, aber wo war er jetzt, da sie ihn brauchte? Er war mit Norm unterwegs, fiel ihr ein, genau. In Santa Rosa. Vorräte einkaufen. Er hatte ihr versprochen, sein LSD zur gleichen Zeit einzuwerfen wie sie, damit sie gemeinsam auf der Welle reiten könnten, und sie sah vor sich, wie er das tat, während der Wagen die Straße entlangrumpelte und Norm mit der Radiomusik mitgrölte, seine Stimme wie ein anhaltendes Kreischen aus dem Haus aller Schmerzen, aber Santa Rosa war ja nicht gerade Timbuktu, und inzwischen müßten sie doch längst zurück sein, oder nicht?
    Mit einem Fußtritt begrub sie die Bücher unter den klauenartigen Blättern. Sie hatten seine Gitarre kaputtgemacht, seine Kleider zerfetzt, die Bücher zerfleddert, und nun legte sie sie wieder zur letzten Ruhe, aber behutsam, mit angemessener Feierlichkeit und allem Respekt. Neue Bücher, mit noch grelleren Farben und wahreren Geschichten, würden dort sprießen, um die zerrissenen zu ersetzen, eine lebendige Bibliothek, die aus dem Waldboden wuchs, Bücher gratis, zur Selbstbedienung, Bücher, die sich wie Beeren pflücken ließen. Oder so ähnlich. Sie blieb noch eine Weile stehen, kämpfte um

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