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Drop City

Drop City

Titel: Drop City Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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verpaßte Marco auch ihm eine Massage, sehr gründlich und sehr gewissenhaft, mit spezieller Betonung von Kopf und Kehle. Aber das hier war keine Massage, es war Mord. Oder jedenfalls nahe daran. Es floß Blut, wo kein Blut hätte sein dürfen, auf den ausgetrockneten Dielenbrettern und den verblichenen Holzwänden, es sickerte in den Stoff von Sky Dogs Jeansweste und wurde wie Fingerfarben in der Höhlung seines Schlüsselbeins verschmiert. Auch Stars Blut pochte rasend schnell. Sie fand das alles furchtbar, ganz furchtbar, doch sie konnte den Blick nicht abwenden, und sie rief kein einziges Mal um Hilfe.
    Doch das war neulich gewesen, und neulich zählte nicht viel.
    Was zählte, war das Jetzt, und so öffnete sie die Augen für die sanft nickenden Bäume, das Festival am Fluß, ein Eisvogelpaar, das dicht über der Wasseroberfläche dahinzog. Es war nur ein Tag, eine Art Kleidungsstück, das man überwerfen und für eigene Zwecke verwenden konnte, und dieser Tag wurde jetzt heller und leuchtender, bis alle Farben sich als Relief vor den Schatten abhoben, die auf dem jenseitigen Ufer versammelt waren. Zahlen, sagte sie zu sich – Zahlen, keine Geschichten. Zwei Vögel, ein Fluß, dreihundertsechzehn Bäume, siebentausend Wildblumenarten, eine Erde, ein Himmel: es gab nichts, wovor man sich fürchten mußte, nothing to get hung about. Strawberry fields forever . Sie stemmte sich hoch und ging zurück zum Haus.

12
    Norm besaß eine Taschenuhr, die seit drei Generationen in seiner Familie war, ein angelaufenes silbernes Ei an einer angelaufenen Silberkette, das immer in der Vordertasche seines Overalls steckte. Nach Marcos Schätzung dürfte er mindestens alle dreißig Sekunden nach der Zeit gesehen haben, seit sie von der Ranch losgefahren waren, während er die freie Hand lässig über das Lenkrad hängen ließ, das Radio statisch knisterte und der VW-Bus durch die Kurven der Flußuferstraße schleuderte, als wären die üblicherweise geltenden Naturgesetze – Schwerkraft, Geschwindigkeit, Luftwiderstand – zu Ehren des Tages ausgesetzt. »Weißt du«, brüllte Norm gerade, »ich möchte diesen Trip sauber koordinieren, so daß wir voll im Einklang mit allen anderen sind, und da meine ich exakt auf die Minute – und nenn mich ja nicht spinnig, denn das ist ein Karma-Ding, ja? Damit wir alle zugleich abheben. Ich meine, hat doch wenig Sinn, auf Trip zu gehen, wenn man nicht gemeinsam abhebt, oder? Hab ich nicht recht?«
    Um das zu wissen, brauchte er Marco nicht, aber dieser bestätigte es ihm dennoch.
    »Na schön. Also, dann peilen wir zehn Uhr an, einen Becher O-Saft für dich und einen für mich, danach kaufen wir die Sachen für das Festessen ein – Vanille-Cola, darauf steh ich total, Mann, ich sterbe für Vanille-Cola, besonders wenn ich auf Acid bin –, und damit sind wir gegen halb zwölf, zwölf zurück, weißt du, und die Party kann steigen, der längste Tag im Jahr, Mann, der längste Tag. Wow! Kannst du dir das vorstellen?«
    Sie waren gerade auf den Parkplatz vor dem Supermarkt eingebogen – ringsherum brandete das Leben, Kinder auf Fahrrädern, alte Männer, die aus ihren Pickups krochen wie zerquetschte Käfer, röhrende Flugzeuge am Himmel, Mütter, die Einkaufswagen vor sich herschoben, als zögen sie in den Krieg –, als Norms Taschenuhr den Geist aufgab. Um fünf vor zehn blieb sie stehen, die Zeiger erstarrten wie aufs Zifferblatt gelötet. »Ich kann’s nicht fassen«, murmelte er und tippte an das dicke Glas. Er hob die Uhr ans Ohr, klopfte noch einmal dagegen. »Hab sie doch erst heute früh aufgezogen.«
    »Da hast du’s wieder«, belehrte ihn Marco. »Zuviel Rücksicht auf kleine Details. Laß dich doch einfach treiben.«
    Norm wirkte verdattert. Er warf Marco einen Blick aus der Tiefe seiner wie eingemauerten Augen zu, als wüßte er ihn nicht recht einzuordnen. Er murmelte etwas Unverständliches, eine Art Gebet oder Gesang, und dann, aus heiterem Himmel, begann er: »Weißt du, also nicht daß mich das irgendwas angeht, aber nur so aus Neugier – du hast was mit Star angefangen, stimmt’s?«
    Die Frage überrumpelte Marco ein wenig – Star? Wer redete denn da von Star? – und ließ ein jähes Mißtrauen in ihm aufsteigen. Er sah Norm an, musterte seine braunen Augen, die fieberhaft hinter den verzerrenden Brillengläsern zuckten, und fragte sich: Was ging ihn das denn an? Achtete er auf so etwas überhaupt? Und wenn ja: wonach fragte er da in Wirklichkeit? Als Oberguru und

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