Drop City
in einem nassen T-Shirt und nassen Shorts. Und dann bückte sie sich über Ches reglose Gestalt, räumte mit festem Griff von zwei Fingern seine Zunge aus dem Weg, hielt ihm die Nase zu und begann, ihm Leben einzuhauchen. Wiederbelebungsmaßnahmen. Junior-Lebensretter-Team. Mund-zu-Mund-Beatmung . Auch ihm fiel das alles sofort wieder ein, aber er konnte nur zusehen, die Arme hingen ihm herab wie angeklammert, und er empfand nichts als Ehrfurcht. Er sah zu, wie Stars Knie sich in die Steinplatten rammten, sah sie auf den nackten Fußristen das Gleichgewicht halten. Und ihr Haar. Es war ein Wunder, breitete sich über Kopf und Körper des Kindes wie ein Sauerstoffzelt, jede Strähne ein Finger, und jeder Finger lockte zurück ins Leben.
Die Leute klopften jetzt die Büsche ab, riefen Sunshines Namen, als wäre es das einzige Wort ihrer Sprache, während Norm draußen auf der Landstraße blutete wie ein Vieh, der Sheriff unterwegs und die Bürgerwehr unter Waffen war, aber dennoch unternahm Marco nichts. Er betrachtete Stars Haar, sah zu, wie ihr Mund sich um den des Jungen schloß. Sich schloß und wieder abhob, sich schloß und wieder abhob. Ein Jahr verging. Ein Jahrzehnt. Und dann strampelte Che plötzlich mit dem linken Bein, und Marco war erlöst. Im nächsten Augenblick rannte er wieder los, erzeugte einen ganz eigenen Fahrtwind, seine verschwitzten Haare schlenkerten ihm um den Kopf, und die muskulösen Beine kämpften mit der Böschung, durch Eibe, Lorbeer und Spitzkiefer hinunter ans Ufer, wo der Fluß den Himmel spiegelte. Er rief ihn jetzt auch, sprach den Namen aus, den alle anderen im Munde führten, ja, unwillkürlich schrie er ihn, bis seine Lunge brannte und ihm der Mund trocken wurde: »Sunshine! Sunshine!«
Keine Antwort. Er nahm den Weg oben am Ufer entlang, sah angestrengt in den Fluß, aber das Wasser war trübe und hier auch sehr tief, wo das Bett sich um eine plätschernde Biegung wand. Das Wasser sprach zu ihm, beruhigte ihn jedoch nicht. Vögel zwitscherten. Der Himmel hob ab und klatschte wieder runter. Was hatte er denn zu sehen erwartet – einen bleichen Arm, der ihm aus dem Geröll des Flußbetts zuwinkte? Einen gespenstischen Leichnam, der zwei Meter tief in einem Felsspalt klemmte? »Sunshine!« rief er. »Sunshine!«
Er rief immer noch, als er sie fand. Er rief zwar, aber sie antwortete nicht. Sie hockte unter einem ausladenden Strauch voller Beeren, eine rote Saftspur verlief über ihre Wange und überzeichnete ihren Mund, so daß sie wie ein Clown aussah. Ihre rotgefärbten Hände nestelten in ihrem Schoß. Sie trug ein schmutzigweißes Kleid, keine Schuhe, Perlenbänder um Hals und Handgelenke, und das Haar war zu zwei unordentlichen Zöpfen geflochten, in denen Laub und kleine Zweige klebten. »Sunshine«, sagte er, nur um den Namen noch einmal zu hören. Sie starrte an ihm vorbei, saß zusammengekauert da, eng zusammengekauert. Vielleicht sang sie vor sich hin, sicher war er nicht, denn sie machte irgendwelche Geräusche, die ihn leicht erschauern ließen. »Alles in Ordnung mit dir?« fragte er.
Sie antwortete nicht.
»Sieh mal«, sagte er und brachte die Worte nur mühsam hervor, »alle haben sich deinetwegen Sorgen gemacht – am meisten deine Mutter. Und dein Vater. Und Norm und ich und alle anderen.« Er hielt inne, um die Atemluft auszustoßen, nur einen Moment lang, um dem öden Einerlei von Einatmen-Ausatmen zu entgehen. »Hast Beeren gepflückt, was?«
Sie sah ihn nicht an, nickte aber, jedenfalls hatte er den Eindruck.
»Na, dann werd ich dich jetzt mal zurückbringen, einverstanden? Ich nehm dich auf die Schultern und geh mit dir zum Haus – willst du auf mir reiten? Soll ich dich huckepack nehmen?«
Als sie aus dem Wald traten, wurde er als Held begrüßt, die gesamte Sippe scharte sich um sie mit scheuem, bangem Lächeln und verschrecktem Blick, die nächste Tragödie war abgewendet, dann wollen wir mal den Ofen anwerfen und endlich einen draufmachen, klar doch, und die Musik legte auch schon wieder los. Es erstaunte ihn, die Sonne hoch am Himmel zu sehen – immer noch war es früher Nachmittag, dabei kam es ihm vor wie Mitternacht. Reba kam durch den Garten, nahm wortlos ihre Tochter von seinen Schultern und trug sie ins Haus, als wäre nichts geschehen. Che war nicht mehr zu sehen – vermutlich auch im Haus, im Bett, betütert von einem halben Dutzend Frauen, und dieses Bild wollte sich Marco gern bewahren –, aber der Abdruck des Jungen zeigte sich noch
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