DSR Bd 4 - Das Schattenlicht
gegenüber rationalen Erwartungen. Einige mochten sie vielleicht inspirierend finden – falls das, was man als Inspiration suchte, Verzweiflung war.
Snipe wurde der endlose Unterricht erspart, weil ihr königlicher Tutor – nach einer besonders grauenvollen Sitzung, bei der das Tintenfass und Schreibfedern beteiligt waren – den Burschen für nicht unterrichtbar oder sogar beschränkt erachtet und ihn fortgeschickt hatte, sodass der Junge nun sich selbst überlassen war. Douglas hatte nicht dieses Glück.
Nach dem Unterricht traf ein Diener ein und kochte eine Mahlzeit oder brachte eine. Douglas und Snipe aßen, und dann wurden sie eine Zeit lang sich selbst überlassen. Manchmal spazierten sie durch die umliegenden Weinberge – in der unaufdringlichen Gesellschaft eines ihrer Wächter oder beider –, und manchmal machten sie wie gute Etrusker ein Nickerchen während der Hitze des Tages. Am Abend traf Pacha ein, der königliche Kämmerer, um zu überprüfen, was durch den Tagesunterricht erreicht worden war. Gelegentlich drückte Pacha seine Anerkennung über Douglas’ Fortschritt aus. Doch in den meisten Fällen ging er mit einem bestürzten Kopfschütteln fort.
Der Fortschritt war gering und jeder Schritt eine Schlacht gegen einen kompromisslosen Widersacher. Doch es wurde Boden gewonnen, und schließlich gelang es Douglas, ein paar einzelne Wörter aneinanderzureihen und sie so zu formen, dass sie den beabsichtigten Sinn ausdrückten. Obwohl er sich wie ein Stotterer fühlte, der einen Knoten in der Zunge hatte, konnte er sich mehr schlecht als recht verständlich machen – bei einfachen Sachen jedenfalls. Die Anstrengung war aufreibend, und in der letzten Zeit schien eine Niedergeschlagenheit an seinen Ellbogen zu hängen und an seinen Fersen zu zerren. Er hatte es aufgegeben, zu versuchen, Snipe mit etwas zu beschäftigen und aus Schwierigkeiten herauszuhalten. Jetzt ließ er einfach die Wachen sich um das ungeratene Kind kümmern und dachte dabei: Solange sie im Dienst waren, könnten sie sich ebenso gut nützlich machen.
An diesem Morgen wachte Douglas ganz plötzlich auf – und ihm war augenblicklich bewusst, dass sich etwas geändert hatte. Er lag auf seiner Pritsche und versuchte in dem dämmrigen Morgenlicht zu erkennen, was ihn so abrupt aus dem Schlaf gerissen hatte. Mit wachsamen Sinnen lag er da und lauschte, doch er hörte nichts, was seine unerwartete Erregung erklären würde. Als er sogar noch angestrengt in die Stille hineinzuspüren versuchte, kam ihm in den Sinn, dass vielleicht die Stille selbst ihn aufgeweckt hatte: Es war weniger eine friedliche Ruhe, sondern mehr eine lähmende Stille – eine beklemmende Macht, die schwer auf ihm lastete und jeden Atemzug zu einer lästigen Arbeit machte. Endlich war etwas anders.
Er warf die dünne Bettdecke zur Seite, erhob sich und blickte sich rasch im Zimmer um. Snipe in seiner Ecke schlief immer noch, zusammengerollt wie eine Katze. Warum der merkwürdige Junge es vorzog, auf diese Weise zu schlafen, hatte Douglas niemals herausgefunden. Er schlich in den Hauptraum des Gästehauses – nichts hatte sich dort verändert oder war fehl am Platze – und ging weiter zur Tür. Er öffnete sie und trat hinaus auf den mit Weinreben bedeckten Säulenvorbau, der sich vor dem kleinen Haus befand.
Die Luft war zwar kühl, doch feucht und regungslos. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, obschon der östliche Himmel in einem tristen, unheilvollen Licht leuchtete, das die Farbe einer verdorbenen Auster besaß. Die Weinberge waren still, und die Blätter glitzerten, da der Tau auf ihnen lag. Der Chor aus Hunden und Hähnen, der jede Morgendämmerung begrüßte, blieb seltsamerweise stumm. Auch die Wachen waren nicht eingetroffen. Sie kamen ansonsten so regelmäßig wie der Sonnenaufgang; und Douglas hatte nie erlebt, dass sie jemals später erschienen waren als ein paar Minuten vor dem Zeitpunkt, wenn die Sonne den Horizont durchbrach: eine Gepflogenheit, die ihn verblüffte – als würden die königlichen Gäste, die sich unter ihren haftähnlichen Bedingungen verzehrten, nicht daran denken, während der Nacht zu fliehen. Dass Douglas und Snipe noch nicht die Flucht ergriffen hatten, war nicht auf einen Mangel an Gelegenheiten zurückzuführen, sondern auf Douglas’ unbändiges Verlangen, hinter das Geheimnis der Karte zu gelangen. Um dieses Ziel zu verwirklichen, war er gewillt, vieles zu ertragen – einschließlich Hausarrest.
Als er dastand
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