Du bist das Boese
gerechtfertigt hat. Damals war Auschwitz noch kein touristisches Ziel, und Hagi verfügte über wertvolle Kontakte vor Ort.«
»Fand diese Reise denn statt?«
»Ja, im Mai. Jedenfalls kamen wir danach nicht mehr auf Signor Hagi zurück. Es gab wohl keinen Anlass.«
Balistreri schielte auf das zweite Blatt.
»Zu der anderen Person, zu der Sie mich befragen wollten«, erklärte der Conte.
»Ich habe doch gar keinen weiteren Namen genannt«, protestierte Balistreri.
»Das war auch nicht nötig«, sagte der Conte schlicht.
Er reichte ihm ein Blatt, über dem der Name von Francesco Ajello stand. Die Aufstellung war deutlich länger als bei Hagi. Jeder Auftrag war genau beschrieben und mit Datum versehen. Alle hatten einen Bezug zum Immobilienbesitz des Conte, und bei manchen war sogar die Höhe des Honorars notiert. Die Zusammenarbeit hatte im Januar 1982 begonnen und endete gut vier Jahre später, im November 1985. Der Conte kam seiner Frage zuvor.
»Ajello hat dann seinen Abschluss gemacht und eine eigene Kanzlei gegründet.«
»Und seitdem?«, fragte Balistreri.
»Seitdem pflegen wir keinen beruflichen Kontakt mehr. Avvocato Ajello schickt mir jedes Jahr Weihnachtswünsche.«
»Hat er seine Arbeit damals hier erledigt?«
»Nein, nie. Dies hier ist mein Privatdomizil, und wie Sie wissen, liebe ich die Diskretion. Ajello hat in der Kanzlei gearbeitet, die sich um meine Geschäfte kümmerte.«
»Haben Sie seine Freundin kennengelernt? Sie war eng mit Alina Hagi befreundet.«
»Nein«, sagte der Conte. »Ich wusste nicht viel über den jungen Ajello.«
»Ich habe Alina Hagis Freundin einmal gesehen.« Sie drehten sich beide zu Manfredi um.
»Sie kannten Alina Hagi?«, fragte Balistreri überrascht.
»Nicht näher, aber sie war mal hier bei uns, und da habe ich sie kennengelernt. Sie war sehr nett. Ich glaube, mein Aussehen hat sie gerührt.«
»Und was hat Alina Hagi in Ihrem Haus gemacht?«, fragte Balistreri.
»Ulla hatte sie eingeladen. Sie wollte sich vor der berühmten Auschwitzreise noch ein paar Ratschläge holen. Sie kam zusammen mit einer anderen jungen Frau, ihrer besten Freundin offenbar.«
»Erinnern Sie sich an ihren Namen?«
Manfredi schüttelte den Kopf. »Nein, den hat sie mir nicht genannt. Aber ich erinnere mich, dass sie das Gegenteil von Alina Hagi war. Die eine klein und blond, die andere dunkelhaarig und groß.«
Es war unglaublich. Der dünne Faden, an dem er ohne große Überzeugung gezogen hatte, zerfranste in tausend andere, allesamt verknüpft mit einer Zeit, die er tief in seinem Bewusstsein vergraben hatte. Und wie ein Spinnennetz hielten all diese Fäden ihn in der Vergangenheit fest und weckten in ihm eine blasse Erinnerung, die er mit den Jahren erfolgreich verdrängt hatte.
Die Personen der Gegenwart – Hagi, Ajello, Samantha Rossis Mutter – vermischten sich mit denen der Vergangenheit. Wo verlief die Grenze, fragte er sich, wenn es denn überhaupt eine gab. Er verließ die Via della Camilluccia, wie er sie viele Jahre zuvor schon einmal verlassen hatte: mit dem Gefühl, dass die Wahrheit sehr nah und doch in weiter Ferne lag.
Auf dem Weg nach Hause fuhr er durch die überfüllte Innenstadt, wo sich in Bars, Restaurants und Theatern die Menschen drängten. Es war Samstag, ein herrlicher Sommerabend, und alle waren unterwegs, um sich zu amüsieren. Er sah zu der großen Kuppel hoch, in deren Nähe Linda Nardi wohnte, zog sein Handy hervor und zögerte lange. Schließlich wählte er Angelo Dioguardis Nummer. Er war nicht zu erreichen.
Bevor er schlafen ging, nahm er eine alte, vor langer Zeit abgelegte Gewohnheit wieder auf: Whisky pur und dazu eine Zigarette.
Sonntag, 16. Juli 2006
Vormittag
Er schlief wenig und schlecht. Nicht mehr als zwei Stunden. Die Hitze, der Lärm der Nachtschwärmer, die Mücken, die um ihn herumsirrten. Und die lästigen Gedanken, die sich nicht vertreiben ließen. Er hatte Sodbrennen vom Alkohol, und vom Rauchen brummte ihm der Schädel.
Als er im Morgengrauen aufstand, war er vollkommen verspannt. Aus dem Ofen von Signora Fadlun stieg der Duft von frisch Gebackenem zu ihm auf. Die Juden ruhen am Samstag, arbeiten aber am Sonntag. Nach einer eiskalten Dusche stürzte er einen bitteren Kaffee hinunter. Dann rauchte er gleich seine erste Zigarette und machte sich auf den Weg ins Büro.
Je größer seine körperliche und geistige Erschöpfung, umso stärker sein Tatendrang, was eine doppelte Gefahr darstellte.
Um sieben Uhr morgens
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