Du bist das Boese
war Rom sonnig, still und völlig ausgestorben nach der trubeligen Samstagnacht. Nur wenige Bars hatten schon ihre Rollläden hochgezogen. Er kaufte eine Zeitung und trank noch einen Kaffee. Dann setzte er sich an eins der Tischchen, um seine zweite Zigarette zu rauchen. Ein Treffen mit Cardinale Alessandrini zu organisieren, war entweder einfach oder unmöglich. Corvu würde schon einen Weg finden.
Um halb acht kam Corvu ins Büro. Balistreri hatte ihm schon tausendmal gesagt, dass er es sonntags ruhiger angehen lassen solle, aber nichts zu machen. Mit ihm kam Giulia Piccolo, die sich gleich an ihren Arbeitsplatz zurückzog.
Corvu machte einen ungewohnt resoluten Eindruck. »Dottore, ich habe lange nachgedacht. Und ich muss gestehen, dass ich absolut nicht Ihrer Meinung bin«, sagte er und deutete zu Piccolo hinüber.
Absolut. Ein Ausdruck, den der schüchterne und höfliche Mann äußerst selten benutzte.
»Auch ich habe nachgedacht«, antwortete Balistreri zu seiner Verwunderung. »Hol sie her. Ich hoffe, sie hat es jetzt kapiert.«
Corvu sah ihn an, lächelte und eilte davon.
Piccolo kam mit gesenktem Blick herein. »Dottore, ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen«, murmelte sie, bevor Balistreri etwas sagen konnte.
»Schon gut, Piccolo. Ich werde euch jetzt eine Geschichte erzählen, die ihr nur in Bruchstücken kennt.«
Sie setzten sich begeistert zu ihm und hörten aufmerksam zu. Ihm war bewusst, dass der Fall Elisa Sordi, in den ihr Chef indirekt involviert war, immer noch als das schlimmste Fiasko der Mordkommission galt. Piccolo wurde darüber aufgeklärt, wie Belhrouz ums Leben kam. Nur die Umstände von Colajaconos Tod behielt Balistreri für sich. Es war ihm ein Bedürfnis, seine Einsamkeit aufzusprengen, aber nicht in diesem Maße.
Corvu konnte seinen Vertrauensmann im Vatikan sofort erreichen. Schon wenige Minuten später sprach er mit dem persönlichen Assistenten von Cardinale Alessandrini.
»Auf offiziellem Wege wäre das unmöglich, Dottore, das wissen Sie. Aber der Kardinal wird Sie noch heute zu einem informellen Treffen empfangen, in der Päpstlichen Universität, vor dem Angelus um zehn Uhr dreißig. Anschließend wird er mit Seiner Heiligkeit nach Castelgandolfo aufbrechen.«
»Gut. Ihr versucht, diese verdammte Tafel mit Antworten zu füllen. Und macht Ornella Corona ausfindig. Ich möchte erst mit ihr reden, bevor ich zu Ajello gehe.«
»Wenn Sie gestatten, würde ich Natalya gern zum Mittagessen auf dem Gianicolo ausführen. Sie fliegt morgen zu ihrer Familie in die Ukraine.« Corvu machte eine beschämte Miene.
Balistreri bestärkte ihn noch. »Warum fährst du nicht mit? Dann lernst du mal etwas anderes von der Welt kennen als dein Sardinien.«
Corvu sah ihn verdutzt an. »Aber die Ermittlungen. Sie sagten doch gerade eben …«
»Frag Natalya, ob sie dich mitnimmt«, mischte Piccolo sich ein. »Was den Fall angeht, werde ich Dottor Balistreri schon helfen.«
Balistreri überließ sie ihrer angeregten Diskussion. Um halb zehn machte er sich in aller Ruhe auf den Weg zum Petersplatz. Die Römer schliefen noch, aber Dutzende von Touristengrüppchen strömten zu Fuß oder im Reisebus zum Vatikan, um sich den Segen des Papstes erteilen zu lassen.
Er kam zu früh. Der persönliche Assistent führte ihn in einen großen, mit jungen Priestern unterschiedlichster Herkunft und Hautfarbe gefüllten Hörsaal. Genau wie damals, als er Alessandrini in seinem Penthouse zum ersten Mal begegnet war. Vorne am Katheder erkannte er die zierliche Gestalt des Kardinals, der den Studenten Diplome austeilte.
Anders als der Conte hatte Cardinale Alessandrini ihn nie eingeschüchtert, sondern vor allem provoziert. 1982 war er kurz zuvor zum Kardinal ernannt worden, jetzt aber bekleidete er eines der höchsten Ämter im Vatikan. Alessandrini mochte wohl um die achtzig sein, fast gleichaltrig mit dem neuen Papst. Sein Haar war vollständig ergraut, doch sein Gesicht strahlte immer noch dieselbe Intelligenz und Energie aus. Als Alessandrini ihn sah, hob er, ohne sich ums Protokoll zu scheren, die Hand zum Gruß.
Um halb elf leerte sich der Hörsaal plötzlich, und der Kardinal winkte ihn zu sich. »Sie beeilen sich, um den besten Platz bei der Papstaudienz zu ergattern«, erklärte er Balistreri, der das freudige Ausschwärmen der jungen Priester interessiert verfolgte.
Der Kardinal besaß immer noch den Habitus des Denkers, der das aktive Tun präferiert. Und er behandelte ihn, als hätten
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