Du bist das Boese
liebte.«
Zum ersten Mal erzählte er die Geschichte, die sein ganzes Leben beeinflussen sollte. Und indem er es tat, gelangte er nach und nach auf eine neue, tiefere Stufe des Verstehens. Seine Schuld war schlimm, aber noch viel schlimmer war seine Art der Sühne. Dieser immer radikalere Verzicht auf das Leben wog schwerer als Millionen Vaterunser und Ave-Maria.
Alessandrini hörte sich die Geschichte in vollkommenem Schweigen an, ohne jeden Kommentar.
»Eminenz, würden Sie mir die Absolution erteilen, jetzt, da Sie alles wissen?«
Die Antwort kannte er, bevor er sie hörte. »Bereust du aufrichtig, mein Sohn?«
Eine streng katholische Erziehung. Ein übermächtiger, obsessiver Vater. Ein Jugendlicher, der nicht so sein konnte, wie dieser Vater es sich wünschte, und der sich als Schutz vor diesem permanenten Scheitern ein Gegenmodell gesucht hatte, das der Filmhelden seiner Kindheit. Ehre, Mut und Treue.
»Eminenz, die ständige Reue und mein Bedürfnis nach Erlösung und Vergebung haben mir höchstens dazu verholfen, bereits zu Lebzeiten zu sterben.«
Alessandrinis Stimme war ein Flüstern. »Mein Sohn, wenn du Gottes Vergebung suchst, musst du zulassen, dass er über dich richtet. Nicht du kannst über die Religion richten.«
Im Grund waren dies die Worte, die er hören wollte. Genau an dieser Frage hatte sich seine jugendliche Rebellion entzündet. Und zu ihr kehrte er nun zurück. Zu der einzigen echten und dauerhaften Meinungsverschiedenheit mit seinem Bruder Alberto. Die einzige Sache, über die sie ernsthaft gestritten hatten und die ihm irgendwann abhanden gekommen war.
Nietzsche. Mama. Nicht ihre Menschenliebe, sondern die Ohnmacht ihrer Menschenliebe hindert die Christen von heute, uns – zu verbrennen.
Balistreri erhob sich von der Kniebank.
»Eminenz, wenn es eine Strafe zu verbüßen gibt, dann verbüße ich sie hier auf Erden, wie auch immer sie aussehen wird. Aber darüber befinden weder Sie noch der liebe Gott.«
Alessandrini seufzte und verließ den Beichtstuhl. Sie standen sich gegenüber. Nun waren sie endlich Gegner auf gleicher Augenhöhe.
»Eine Sache noch, Eminenz. Der berufliche Grund meines Kommens.«
Nach einer Pause seufzte Alessandrini erneut.
»Möchten Sie mit mir über Elisa Sordi sprechen, Dottor Balistreri?«
»Ja, Eminenz. Über einen Abend im Juli 1982, an dem ich mir in Ruhe ein Fußballspiel ansehen wollte.«
»Sie waren jung, Balistreri. Heute würden Sie diese Fehler nicht mehr machen.«
»Mir geht es nicht um diese Fehler, sondern um andere. In all den Jahren habe ich mir eingeredet, dass man den Mörder in der feiernden Menschenmenge sowieso nicht hätte ausfindig machen können. Das war meine Art, mein schlechtes Gewissen zum Schweigen zu bringen. Irgendwann hatte ich Elisa Sordi tatsächlich in einer kleinen dunklen Ecke meines Bewusstseins begraben.«
»Und das ist jetzt anders?«
»Eminenz, wie Sie wissen, hat Marius Hagi noch vor seiner Verhaftung Fiorella Romani verschleppt. Heute Morgen war ich in Lecce und habe mit Signora Gina gesprochen.«
Das Schweigen zog sich in die Länge. Balistreri stellte fest, dass er seine Wut auf Alessandrini endlich unter Kontrolle hatte und in positive Energie umwandeln konnte. Zweifellos hatte der Kardinal viel Gutes getan. Und wenig Böses. Doch egal, aus welchem Grund er 1982 von Gina Giansanti verlangt hatte, die Unwahrheit zu sagen, diese Lüge war inakzeptabel und hatte viele weitere Todesfälle verursacht. Keine irdische Gerechtigkeit würde ihn davon freisprechen. Und kein Gott. Dieser Gedanke war allerdings sinnlos. Nur die Wahrheit konnte nun helfen. Die Wahrheit, die Hagi dafür verlangte, dass er Fiorella Romani begnadigte.
Der Kardinal kniete auf einer der Bänke nieder. Balistreri ließ ihn ungestört beten. Er war benommen vom Weihrauchgeruch, ausgezehrt von der Anspannung und der Müdigkeit, bedrückt über Angelos und Lindas Verrat und angeekelt von dem, was er ihr am Abend zuvor angetan hatte. Doch genau dieser Aussetzer hatte ihn wieder ins Leben zurückgeholt und dazu bewegt, nach der Wahrheit zu suchen, nach irgendeiner Wahrheit.
Nach einigen Minuten winkte Alessandrini ihn zu sich. Balistreri kniete sich neben ihn.
»Gina Giansanti trifft keine Schuld. Ich hatte sie darum gebeten auszusagen, dass sie Elisa Sordi an jenem Abend gegen acht noch gesehen hätte. Ich wusste, wo ich sie in Indien erreichen konnte, und habe es ihr telefonisch mitgeteilt. Sie wollte Manfredi nicht helfen, aber ich
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