Du bist in meiner Hand
überließ Sita den Fensterplatz und setzte sich neben sie. Sita sah sie an. »Was glaubst du, wo wir hinfahren?«, flüsterte sie auf Englisch.
Ahalya warf einen Blick zu Vetri hinüber, doch der starrte gerade gebannt in eine Filmzeitschrift und interessierte sich nicht weiter für sie.
Sie holte tief Luft. »Ich weiß nicht. Von diesem Zug habe ich noch nie etwas gehört.«
»Ich habe Angst.« Sitas Worte waren in dem Lärm kaum zu hören.
»Sei stark, kleine Blume«, entgegnete Ahalya, wobei sie bewusst Sitas liebsten Spitznamen verwendete. »Wenn Mutter jetzt hier wäre, würde sie dasselbe sagen.«
Bei Sonnenaufgang verließ der Zug Chennai und begann seine Reise durch die weite Landschaft, vorbei an Dörfern und Reisfeldern, die von der Sonne ausgedörrt wirkten. Um sich abzulenken und die Zeit totzuschlagen spielten Ahalya und Sita Sprachspiele, wie sie es in St. Mary’s so oft getan hatten.
»Nenn den Dichter«, forderte Ahalya ihre Schwester auf: »›Das Licht legt sich wie Goldstaub auf jede Wolke, mein Liebling, und verstreut Edelsteine in Hülle und Fülle.‹«
»Tagore«, antwortete Sita. »Das ist leicht.«
»Und das? ›Der Weg der Liebe ist das Leben. Ohne sie sind Menschen nur Knochen, bekleidet mit Haut.‹«
»Thiruvalluvar«, löste Sita das Rätsel mit Leichtigkeit.
Ahalya fiel ein weniger bekannter Vers ein. »›Der Wind der Morgenröte, der verschlossene Blüten befreit, hält für dich laue Luft bereit.‹«
Sita überlegte eine ganze Weile. »Das weiß ich nicht.«
»Hafiz.«
»Aber der war doch Muslim und kein Hindu«, wandte Sita ein.
»Für die Dichtung spielt das keine Rolle.«
Während die Stunden vergingen, füllte sich der Waggon immer mehr. Mittlerweile war es dort zum Ersticken heiß. Ahalya sah die Schweißtropfen auf der Stirn ihrer Schwester. Ihr eigener Churidar fühlte sich auch ganz feucht und klebrig an. Außerdem hatten sie Hunger. An jeder der ländlichen Haltestellen priesen fliegende Händler auf den Bahnsteigen ihre Speisen und Getränke an, doch als Vetri für sich selbst Mittag- und Abendessen kaufte, gab er den Mädchen jeweils nur Bananen.
Um sieben ging die Sonne unter, und die kühler werdende Luft brachte willkommene Linderung. Sita gähnte und sah dabei ihre Schwester an, die den fragenden Ausdruck in ihren Augen bemerkte. Während sie ihrerseits den Blick über die dicht zusammengepferchten Leiber schweifen ließ, die sich zum Teil auf den Bänken aneinanderdrängten, zum Teil auf dem Boden saßen oder sogar standen, fragte sie sich ebenfalls, wie da jemand schlafen sollte.
Trotzdem gelang es ihnen irgendwie. Schon bald streckten sich die ersten Kinder unter den Bänken aus, so gut es zwischen den dort verstauten Gepäckstücken ging. Die Frauen scharten sich zu Gruppen zusammen, bis sie sich sicher genug fühlten, um die Augen zu schließen. In alle verbleibenden Lücken quetschten sich die Männer, auch wenn sie ihre Gliedmaßen dabei in unglaublich enge Nischen und Winkel zwängen mussten.
Ahalya nahm Sita in den Arm und flüsterte ein Gebet, das Ambini ihnen beigebracht hatte und in dem Lakshmi um Glück, Gesundheit und Mut angerufen wurde. Ahalya war klar, dass sie dort, wo sie hinfuhren – wo auch immer das sein mochte –, jede dieser drei Segnungen dringend nötig haben würden.
Während die Nacht voranschritt, drehte sich ständig irgendjemand ächzend um. Babys weinten und Kinder wimmerten vor sich hin, doch sogar Ahalya und Sita schafften es, ein wenig zu schlafen, denn irgendwann in den schwarzen Morgenstunden übermannte sie schließlich die Erschöpfung.
Als Ahalya die Augen wieder aufschlug, bemerkte sie sofort, dass der Zug sein Tempo verlangsamt hatte. Mittlerweile war der Waggon auch nicht mehr so überfüllt. Viele von den Leuten, an die sie sich erinnern konnte, waren verschwunden. Draußen sah sie zunächst nur hier und da ein Licht, doch schon bald tauchten Gebäude auf. Die Angst, die sie während der Fahrt erfolgreich verdrängt hatte, kehrte zurück. Die meisten der verbliebenen Fahrgäste schliefen noch, aber ein paar streckten sich bereits und begannen herumzurumoren. Alles deutete darauf hin, dass sich der Zug seinem Ziel näherte.
Als Ahalya sich wieder dem Fenster zuwandte, stellte sie fest, dass inzwischen auch Sita erwacht war und nach der näher kommenden Stadt Ausschau hielt. »Sie ist größer als Chennai«, bemerkte sie leise.
»Ja«, gab Ahalya ihr recht, während sie ihre Schwester fest an sich
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