Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
erheblich verunsichert. Diese Verunsicherung zeigt sich für Außenstehende deutlich in der ständigen Unzufriedenheit und der herrischen Art und Weise, die diese Kinder oft an den Tag legen. Was sich für uns als sozial unverträgliches Verhalten zeigt, ist im Grunde ein verzweifelter Versuch dieser Kinder, ihren emotionalen Mangel zu kompensieren und die Grenzen ihrer Eltern zu erfahren.
Auch wenn die Vorstellungen, was »Grenzen« sind und wie man mit ihnen umgeht, in den zuletzt beschriebenen Beispielen völlig unterschiedlich zu sein scheinen, gibt es doch einige Gemeinsamkeiten:
In allen Situationen bleiben die Eltern als Persönlichkeiten unsichtbar.
Sie können deshalb keine echte Orientierung für ihre Kinder bieten.
In allen drei Szenen werden die Kinder mit ihren tatsächlichen Gefühlen und Bedürfnissen nicht ernst genommen.
Dabei sind diese Aspekte so wesentlich für eine gesunde emotionale Entwicklung. Denn: Wie können Kinder unter diesen Bedingungen lernen, sich in andere Menschen einzufühlen, wie können sie bei diesen fehlenden Beziehungserfahrungen zu empathischen, konfliktfähigen und selbstbewussten Menschen heranwachsen? Wie können sie diese so wichtigen Beziehungsqualitäten für sich entwickeln, wenn sie keine konstruktiven Erfahrungen mit Gefühlen wie Wut, Trauer oder Enttäuschung machen dürfen, weil ihnen Erwachsene als Vorbilder und als echtes Gegenüber mit eigenen Grenzen fehlen?
Natürlich können wir weiterhin einfach Kindern unsere Grenzen (vor-)setzen, indem wir Verhaltensregeln aufstellen und dann die Übertretung dieser mit einer Strafe belegen. Was Kinder dann jedoch in diesen Situationen lernen, ist, dass sie gehorsam sein und sich darin üben sollen, das zu tun, was eine Autoritätsperson von ihnen verlangt.
Aber Kinder brauchen doch Grenzen, oder? Das fragen Eltern. Ja, die brauchen sie, allerdings keine von außen gesetzten. »Grenzen« verstehe ich nicht einfach als Verhaltensregeln im Umgang miteinander, sie sind vielmehr etwas, was jeder Mensch für sich selbst setzt. Und zwar nicht, um den anderen einzuschränken oder zu begrenzen, sondern um die eigene Haltung deutlich zu machen.
Die Frage ist aus meiner Sicht deshalb nicht: Wie können wir Kindern Grenzen setzen? Denn es geht nicht darum, dass wir Kinder »eingrenzen«, dass wir Wände aus elterlichen Verboten bauen oder Zäune aus Maßregelungen flechten. Ganz im Gegenteil ist es wichtig, dass wir Erwachsenen uns unserer eigenen Grenzen bewusst werden. Damit wir selbst wissen, was wir wollen, und damit wir das dann auch vertreten können. Die Kinder erleben Grenzen dann dadurch, dass sich Eltern positionieren. So erfahren sie: Der andere hat da eine Grenze! Und weiter: Auch ich habe also Grenzen und darf diese deutlich machen! Die Frage muss also umgekehrt lauten: Wie können Eltern mit ihren eigenen Grenzen sichtbar werden, damit Kinder auch ihre eigenen Grenzen erfahren? Menschen und ihre Grenzen werden für andere durch das Äußern ihrer Gedanken und das Zeigen ihrer Emotionen sichtbar.
Um eine Position vertreten zu können, ist es nötig, dass wir uns auch entsprechend äußern und eventuelle Auseinandersetzungen in Kauf nehmen. Voraussetzung hierfür ist es, »Nein« sagen zu können und den daraus womöglich resultierenden Konflikt nicht zu scheuen. Erwachsenen fällt das berühmte »Nein« eben deshalb so schwer; und viele Missverständnisse in Familien entstehen, weil Eltern, wenn sie »Ja« sagen, eigentlich »Nein« meinen.
Oft stellen wir Eltern rhetorische Fragen wie zum Beispiel: »Wollen wir jetzt mal Abendbrot essen?« oder »Gehen wir dann jetzt Zähneputzen?« Hier ist der Konflikt vorprogrammiert, denn Kinder kennen diese Form von Fragen nicht. Kinder sind sehr hartnäckig und hinterfragen uns und unsere Positionen (anders als Erwachsene) immer wieder, und sie wollen ein »Ja« oder ein »Nein«. Nicht, weil sie uns ärgern, sondern weil sie wissen wollen, was wir denken, und weil sie sich rückversichern, ob das, was wir denken, auch immer noch gilt.
Warum fällt uns ein »Nein« manchmal so schwer? Eine Antwort ist: Wir haben persönliche Erinnerungen aus der Kindheit und verbinden es mit elterlicher Unfreundlichkeit. Dennoch: Ein »Nein« zu umgehen, weil man vermeiden möchte, sich schlecht zu fühlen, führt allenfalls für den Moment zu einer konfliktfreien, oberflächlichen Lösung. Langfristig wird die Auseinandersetzung jedoch nicht zu vermeiden sein.
Mit einem »Nein«
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