Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
du denn deinem Trainer Bescheid gesagt?«
Helene: »Nee, das ist mir zu doof. Ich bin ja kein Kleinkind mehr.«
Vater: »Also, jetzt verstehe ich jedenfalls, warum du später nach Hause kommst. Kann ich dir denn irgendwie helfen? Soll ich mal mit dem Trainer reden?«
Helene: »Nein, bloß nicht! Das würde nix bringen, dann würden die mich erst recht ärgern. Ich weiß auch nicht, was ich machen soll.«
Vater: »Es tut mir leid, dich so zu sehen, und es macht mich traurig. Ich will nicht, dass dich jemand so ärgert und Dinge, die dir wichtig sind, in den Mülleimer schmeißt – das macht mich richtig wütend.«
Helene: »Hm … ich muss noch Hausaufgaben machen.«
Vater: »Ja, ich weiß. Aber danke für deine Offenheit und dass du mir das alles erzählt hast. Wenn du glaubst, dass ich dir helfen kann und du meine Unterstützung brauchst, dann sag mir gerne Bescheid.«
Dieser Dialog ist deutlich anders. Es gibt keine Vorwürfe und Belehrungen, und es handelt sich auch nicht um einen Monolog. Der Vater geht engagiert, offen und mit echtem Interesse in das Gespräch mit seiner Tochter. Er bringt seine Überlegungen, Auffassungen und eigenen Gefühle ein, ist jedoch gleichzeitig aufmerksam, an der Meinung seiner Tochter interessiert und nimmt diese ernst. Durch diese Haltung kommt ein gleichwertiger, authentischer Dialog zustande. In diesem Gespräch profitieren beide Teilnehmer vom jeweils anderen. Der Vater erfährt etwas Wesentliches über seine Tochter. Über ihr Leben, ihre Sorgen und Nöte. Und Helene macht die (dann wahrscheinlich wiederholt) gute Erfahrung, dass sie sich ihrem Vater anvertrauen kann und ernst genommen wird.
Nach wie vor ist Helene zwar im Konflikt zu ihren Sportkameradinnen auf sich gestellt, und eine Lösung ist im Moment noch nicht gefunden. Allein jedoch die Tatsache, dass sie in ihrem Konflikt und der Not von ihrem Vater gesehen und verstanden wurde, ist eine Kraftquelle für sie und zeigt die gute Qualität der Beziehung. Durch ein solches Gespräch wird neue Energie auf beiden Seiten freigesetzt, die zu veränderten Einsichten und konkreten Entscheidungen führen kann.
Oft ist es so, dass die Gespräche zunächst deshalb geführt werden, weil ein Verhalten der Kinder nicht eingeordnet werden kann (hier das Zuspätkommen), und durch das Interesse und das Nachfragen werden ganz andere Konflikte der Kinder und Jugendlichen sichtbar (hier das Mobben durch die Sportkameradinnen).
Nur wenn wir achtsam sind, haben wir eine Chance, an der Erlebniswelt der Kinder teilzuhaben.
Wenn Eltern neue Wege ausprobieren wollen, dann können Sie zunächst bei sich selbst mit einer inneren Arbeit beginnen und sich folgende Aspekte konkret überlegen:
Wo trage ich (elterliche) Verantwortung und wo kann mein Kind Eigenverantwortung übernehmen?
Wo liegen meine eigenen Grenzen (»Was möchte ich, was möchte ich nicht«), und wie kann ich achtsam mit den Grenzen meines Kindes umgehen?
Begegne ich meinem Kind wertschätzend in einem gleichwertigen offenen, interessierten Dialog und kann ich meine Bedürfnisse und auch (vermeintlichen) Schwächen zeigen? Und nehme ich die Bedürfnisse meines Kindes wahr?
So kann aus Erziehung eine authentische, konstruktive Beziehung werden, in der sich beide Partner mit ihren Bedürfnissen ernst genommen und wertgeschätzt fühlen.
Die Entstehung von auffälligem Verhalten
Seht ihr den Mond dort stehen?
Er ist nur halb zu sehen,
Und ist doch rund und schön!
So sind wohl manche Sachen,
Die wir getrost belachen,
Weil unsre Augen sie nicht sehn.
Matthias Claudius
Wie entsteht ein Verhalten, das für die Umwelt auffällig ist? Durch genetische Anlagen, oder sind Umwelteinflüsse dafür verantwortlich? Welche Rolle spielt dabei die individuelle Sozialisation, und welchen Einfluss haben Beziehungen auf unsere emotionale und psychische Entwicklung? Schon lange wird darüber diskutiert, ob der Mensch in seinen Anlagen genetisch festgelegt und quasi (vor-)programmiert ist oder ob Kinder vor allem von der Umwelt und den Beziehungen, die sie dort finden, geprägt werden; das Pendel in dieser Debatte schlägt mal in die eine und mal in die andere Richtung aus.
Gerade in meiner pädagogisch-therapeutischen Arbeit mit sogenannten verhaltensauffälligen Kindern stellen sich solche Fragen. Oft wird behauptet, diese Kinder seien in ihrem Verhalten bereits festgelegt und verhielten sich entsprechend ihrem genetischen Programm. Ist das so? Und wenn das so wäre: Welche Chance
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