Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
Welt gekommen. Vielmehr ist er in eine Umwelt hineingeboren worden, in der zwar seine Sehnsucht nach Verbundenheit gestillt, sein Bedürfnis nach Autonomie jedoch nicht befriedigt wurde. Zwischen diesen beiden Urbedürfnissen ist im Laufe seiner Entwicklung ein großes Ungleichgewicht entstanden. Warum?
Die Verbundenheit, nach der sich Tom sehnt, wird von seiner Mutter in hohem Maß überbeantwortet: Sie hat ihren Beruf aufgegeben, verbringt alle Zeit, die sie hat, mit ihm, sogar nachts liegen sie nebeneinander in einem Bett. Fast ist es so, als wären sie vollständig miteinander verschmolzen, als sei Tom noch gar nicht in diese Welt hineingeboren.
Das andere Bedürfnis von Tom, nämlich zu wachsen, autonom und selbstständig zu werden, in die Welt hinauszugehen und auch eigene Erfahrungen machen zu dürfen, bleibt unerfüllt. Es wird ihm durch die Übersättigung mit Verbundenheit, die sich in einer unguten Bindung zwischen Mutter und Sohn manifestiert, verwehrt. So gerät Tom in einen inneren Konflikt, ausgelöst durch seine Mutter, die ihm konstant folgende Grundbotschaften schickt:
Ich möchte nicht, dass du weggehst.
Bleib bei mir, sonst geht es mir schlecht.
Tom löst diesen Konflikt mit seiner Mutter, indem er sein eigenes Bedürfnis, nämlich selbstständig und autonom zu werden, zunächst zurückstellt, später ganz aufgibt. Er kooperiert mit seiner Mutter, indem er sich nun entsprechend diesen Botschaften verhält und dem Wunsch seiner Mutter nach Nähe nachkommt. Auch übernimmt er Verantwortung, die ihn allerdings überfordert: Sein Vater ist nur selten da, seine Mutter ist häufig allein. Er setzt deshalb alles daran, immer bei seiner Mutter zu sein. Er sorgt sich um sie, hat Angst, dass es ihr schlecht geht und dass er dafür verantwortlich sein könnte. Und so ignoriert er schließlich sein natürliches Bedürfnis, selbstständig zu werden, eigene Erfahrungen zu machen und neugierig in die Welt zu gehen. Er weicht seiner Mutter nicht von der Seite. Hierdurch entsteht bei ihm jedoch ein emotionaler Mangelzustand. Tom kann auf diese Weise nicht unabhängig werden, ihm fehlen eigene wichtige Erfahrungen auf allen Entwicklungsebenen. So ist er unsicher, traut sich nicht viel zu, hat kaum Kontakte zu Gleichaltrigen und ist stark fixiert auf seine Mutter. Diese Fixierung verhindert eine autonome Entwicklung.
In den ersten Jahren sind dieses Beziehungsmuster und das daraus resultierende Verhalten nicht besonders aufgefallen. Vielleicht hat Tom auf dem Spielplatz weniger mit anderen Kindern gespielt, war zurückhaltender. Mit Eintritt in den Kindergarten jedoch – wo er über einen längeren Zeitraum von der Mutter getrennt ist – wurde erstmals deutlich, wie sehr Mutter und Sohn miteinander verwoben sind und wie sehr dieses Beziehungsmuster Tom letztlich auf allen Ebenen seiner Entwicklung einschränkt und behindert. Die anstehende Einschulung erscheint nun fast unmöglich, da sich Tom nicht nur über mehrere Stunden am Tag von der Mutter lösen muss, sondern auch, weil er auf diesen weiteren Schritt der Autonomieentwicklung, den das schulische Lernen darstellt, aufgrund fehlender eigener Autonomieerfahrungen nicht vorbereitet ist.
Toms Mutter konnte die Signale ihres Sohnes nur teilweise deuten und seine tiefe existenzielle Not nicht erkennen. So bemerkte sie zwar, dass ihm etwas fehlt, interpretierte jedoch sein Verhalten als Sehnsucht nach ihr als Mutter. Dieser Interpretation liegt wiederum ihre eigene Beziehungserfahrung zugrunde, da sie selbst in ihrer Kindheit die eigene Mutter aus verschiedenen Gründen sehr vermisst hat.
Nachdem Toms Mutter seine Signale besser einordnen und verstehen konnte, wurde in weiteren Gesprächen gemeinsam überlegt, was Tom nun braucht, um die bisher nicht gemachten Erfahrungen nachzuerleben. Tom braucht die Erfahrung, dass seine Mutter sich für ihn freut, wenn er Freunde hat und eigene Erfahrungen macht. Er braucht die Botschaften:
Ich freue mich für dich, wenn du weggehst und eigene Erfahrungen machst.
Mach dir um mich keine Sorgen, mir geht es auch gut, wenn du nicht da bist.
Es braucht nun ein wenig Zeit, bis bei Tom diese neuen Botschaften der Mutter ankommen und er Vertrauen in sich, seine Mutter und die gesamte Situation fassen kann. Es wird auch Zeit brauchen, bis sich Tom traut, seine Selbstständigkeit auszuprobieren. Um ihm diese Zeit zu geben, hat sich seine Mutter dafür entschieden, die Einschulung zurückzustellen. In dieser Zeit hat Tom
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