Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
angeboren, und ist er so ängstlich auf die Welt gekommen? Oder gibt es Umstände, Sozialisationsbedingungen und Beziehungserfahrungen, die dazu führen, dass sich Tom so verhält oder verhalten muss?
Toms Mutter erzählt im Laufe der Beratung weitere Einzelheiten. Tom sei gesund zur Welt gekommen. Er schlafe seit seiner Geburt mit im Zimmer der Eltern. Das eigene Zimmer sei dann »irgendwann abgeschafft« worden. Wenn ihr Mann auch über Nacht unterwegs ist, schlafe Tom im Bett neben ihr und nehme den »Platz des Vaters« ein.
Tom will sich offenbar nicht von seiner Mutter trennen. Das ist – gerade für die Umwelt im Kindergarten – schwer auszuhalten. Er weint und schreit nach der Trennung von seiner Mutter bis zur Erschöpfung, lässt sich kaum beruhigen, und nicht selten muss seine Mutter ihn nach einigen Stunden wieder abholen. Sein Verhalten wird als extrem und auffällig eingestuft. Die Erzieherinnen sind zwar bemüht, aber nach vielen Versuchen, Tom zu integrieren, auch angestrengt. Sie können ihrem Arbeitsauftrag nicht nachkommen: Tom kann an keiner Gruppenaktivität teilnehmen, er kann keine Freundschaften schließen und auch zu den Betreuungspersonen keine Beziehung aufbauen. Wie kommt dieses Verhalten zustande?
Zum einen besteht eine Irritation auf der Bindungsebene zwischen Tom und seiner Mutter.
Bindungstypen
In der Regel unterscheidet man vier Bindungstypen:
die sichere Bindung,
die unsicher-vermeidende Bindung,
die unsicher-ambivalente Bindung,
die desorganisierte/desorientierte Bindung.
Grundlage für diese Unterscheidung bilden die Studien der Entwicklungspsychologin Mary Ainsworth aus dem Jahr 1969. Es wurde untersucht, wie Kinder im Alter von elf bis achtzehn Monaten auf die An- und Abwesenheit und auf die Rückkehr der Mutter reagieren.
Sichere Bindung
Kinder mit einer sicheren Bindung verfügen über ein großes Vertrauen in ihre Bezugsperson. In unbekannten Situationen, in fremder Umgebung oder bei Abwesenheit der Bezugsperson kann es zwar vorkommen, dass sie weinen; sie vertrauen aber darauf, dass die Bezugsperson wiederkommen wird.
Grundlage für eine sichere Bindung sind Eltern, die auf die Signale ihres Kindes reagieren, diese richtig interpretieren und so die kindlichen Bedürfnisse befriedigen und dem Kind Sicherheit vermitteln können.
Unsicher-vermeidende Bindung
Kinder dieses Bindungstyps zeigen eine vermeintliche Unabhängigkeit von der Bezugsperson. Sie wenden sich bei deren Abwesenheit scheinbar unberührt davon dem Spielzeug zu und versuchen auf diese Weise, den Stress durch die Trennung von der Bezugsperson zu kompensieren, ohne ihren wahren Gefühlen dabei offen Ausdruck zu verleihen. Auch bei der Rückkehr der Bezugsperson zeigen diese Kinder kaum sichtbare Reaktionen oder neigen gar zu ablehnendem Verhalten. Kinder mit diesem Bindungsverhalten haben immer wieder die Erfahrung gemacht, dass ihre Wünsche nach Bindung und Nähe nicht erfüllt werden. Um diese immer wiederkehrende, schmerzhafte Enttäuschung zu verhindern, werden diese Kinder selbst zu denjenigen, die eine Beziehung vermeiden.
Unsicher-ambivalente Bindung
Kinder dieses Bindungstyps sind äußerst ängstlich und extrem von ihrer Bezugsperson abhängig. Von ihr kurzfristig getrennt zu sein ist für diese Kinder äußerst belastend, und sie reagieren auf eine fremde Umgebung selbst dann ängstlich, wenn die Bezugsperson noch anwesend ist. Diese Angst ist eine Reaktion auf eine Bezugsperson, deren Verhalten für das Kind nicht einzuschätzen und nicht nachvollziehbar ist.
Desorganisierte/desorientierte Bindung
Kinder dieses Bindungstyps zeigen widersprüchliche, nicht erwartbare Verhaltensweisen. Möglich ist etwa, dass Kinder dieses Bindungstyps weinen, wenn ihre Bezugsperson den Raum verlässt, auf deren Rückkehr aber mit Aggression oder Vermeidungsstrategien reagieren. Nicht selten treten bei diesen Kindern Verhaltensweisen wie körperliches Erstarren oder Hin- und Herschaukeln oder ähnliche stereotype Bewegungsmuster auf. Auslöser für ein solches Bindungsverhalten sind Eltern, die einerseits Bezugsperson, zugleich aber diejenigen sind, vor denen das Kind Schutz suchen muss.
Aus dem Verhalten von Tom lässt sich schließen, dass er (zumindest teilweise) eine unsicher-ambivalente Bindung zu seiner Mutter entwickelt hat. Bei genauerem Hinsehen gibt er deutliche Signale, und sein Verhalten ist, betrachtet man es im Entstehungskontext, nachvollziehbar. Tom ist nicht als (über-)ängstlicher Junge zur
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