Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
haben dann Eltern, Erzieher, Lehrer und Pädagogen, überhaupt einen Einfluss auf die Entwicklung von Kindern zu nehmen?
Meine Erfahrung in der Praxis mit Kindern spricht ganz eindeutig gegen diese These. Immer habe ich das für die Umwelt als schwierig wahrgenommene Verhalten der Kinder im entsprechenden Kontext und aus dem Beziehungszusammenhang heraus verstehen, einordnen und deuten können. Immer wieder hat sich mir gezeigt, dass dem jeweiligen Verhalten ein existenzielles Bedürfnis, oft eine große Not des Kindes, zugrunde liegt. So begreife ich grundsätzlich das Verhalten von Kindern als wertvolles Signal und als Hinweis für uns Erwachsene, was in ihrem Inneren vorgeht und wie sie sich fühlen. Kinder geben durch ihr Verhalten wichtige Zeichen und kompetente Rückmeldungen über ihre innerpsychischen Vorgänge. Was sie mit Worten adäquat oft noch nicht ausdrücken können, spiegelt sich deutlich in ihrem Verhalten.
Als Pädagogin und Therapeutin habe ich nicht die Erfahrung gemacht, dass bestimmte Eigenschaften, zum Beispiel Aggressivität oder der Hang zur Gewalttätigkeit, im genetischen Programm bereits vorhanden und somit nicht beeinflussbar sind. Im Gegenteil. Die psychische und emotionale Entwicklung, geistig-moralische Einstellungen, soziale Eigenschaften und insgesamt das Verhalten eines Menschen sind immer im Gesamtzusammenhang mit Sozialisations- und Beziehungserfahrungen in der Umwelt zu sehen. Sie entwickeln sich und entstehen durch bestimmte Erfahrungen innerhalb von Beziehungen, zunächst zu den ersten Bezugspersonen, später kommen Einflüsse weiterer Personen hinzu. Aus diesen Erfahrungen entstehen Beziehungsmuster, die grundlegende Auswirkungen auf die Ausbildung der psychosozialen Entwicklung und der mentalen Gesundheit haben.
So mache ich immer wieder die Erfahrung, dass Kinder, die als verhaltensauffällig eingestuft werden, durch therapeutische Begleitung die Möglichkeit haben, ihre emotionalen Bedürfnisse und existenziellen Nöte zu formulieren. Wenn Kinder – genauso wie im Übrigen auch Erwachsene – mit dieser Botschaft verstanden werden, ist es möglich, ihren Mangel wieder auszugleichen. So kann ein inneres Gleichgewicht wiederhergestellt werden.
Ich gehe davon aus, dass Kinder dann auffälliges Verhalten zeigen, wenn ihr inneres Gleichgewicht zwischen der Sehnsucht nach Verbundenheit (ich bin anerkannt und geliebt, so wie ich bin) und dem Bedürfnis nach Autonomie (ich wachse und darf selbstständig sein) über einen längeren Zeitraum gestört ist. Dies ist der Fall, wenn Kinder entweder in ihrer Integrität verletzt oder überfordert werden oder wenn sie ihre eigenen Bedürfnisse stets zugunsten der Lösung eines Konflikts mit Erwachsenen zurück stellen und manchmal sogar ganz aufgeben müssen, wenn sie also zu sehr kooperieren.
Tom ist ein kleiner, schmaler Junge. Er ist fünf Jahre alt, und seine Mutter kommt mit ihm zur Familienberatung, weil er nicht zur Schule gehen möchte. Tom wird erst in ein paar Monaten eingeschult, aber er weigert sich jetzt schon, dort hinzugehen. »Ich habe Angst«, sagt Tom leise, als er die Erzählungen seiner Mutter hört. Die Mutter berichtet, dass Tom ihr einziges Kind und dass sie verheiratet sei. Sie lebe mit ihrer Familie in einer kleinen Wohnung. Sie sei viel mit Tom allein. Die berufliche Tätigkeit ihres Mannes erfordere viel Abwesenheit von zu Hause, deshalb sei sie die Hauptbezugsperson. Schon im Kindergarten sei Tom das Einleben sehr schwergefallen, er habe stark unter dem Trennungsschmerz gelitten und sei generell ein ängstlicher, zurückhaltender Junge. Er habe wenig Kontakt zu anderen Kindern und spiele lieber allein. Sie habe schließlich ihre eigene Berufstätigkeit erst reduziert und dann ganz aufgegeben, um immer für Tom da sein zu können. Im Kindergarten sei ihr mehrfach bescheinigt worden, dass Toms Verhalten auffällig und nicht normal sei. Ihr ist deshalb geraten worden, den Kinderarzt bzw. den Kinder- und Jugendpsychiater aufzusuchen, wovor sie aber Angst habe.
Wenn wir Tom und sein Verhalten verstehen wollen, müssen wir uns auf einen längeren Weg einstellen und ergründen, wer er ist, was ihn bewegt und was ihn als Mensch, als Persönlichkeit ausmacht. Umwelt, Eltern und Fachleute konzentrieren sich häufig vor allem auf das vermeintliche Defizit und auf das unangepasste Verhalten, anstatt herauszufinden, was in den Kindern vorgeht, und zu verstehen, wer sie sind. Schauen wir auf Tom: Ist sein Verhalten
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