Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
nun die Möglichkeit, bestimmte Erfahrungen neu zu machen, wichtige Entwicklungen nachzuerleben, Verpasstes nachzuholen. So kann er verschiedene emotionale Entwicklungsschritte aufholen. Sein inneres Gleichgewicht zwischen der Verbundenheit zu seiner Mutter und dem Bedürfnis, Autonomie zu erlangen, kann so wiederhergestellt werden.
Das auffällige Verhalten von Tom resultierte vorwiegend aus einer Überkooperation mit seiner Mutter. Eine zweite Ursache für die Entstehung von auffälligem Verhalten ist die Verletzung der Integrität von Kindern.
Ein Elternpaar, das verzweifelt wegen ihrer achtjährigen Tochter Rat suchte, fällt mir hierzu ein: Die mittlere Tochter wurde zunehmend aggressiv, schlug ihre Geschwister, zwei Jungs, und beschimpfte ihre Eltern. Im Gespräch mit den Eltern wurde deutlich, dass sie mit ihrer Tochter insgesamt unzufrieden waren. Sie hatten das Gefühl, als Eltern nicht klar genug durchzugreifen. »Wenn wir sie ermahnen oder zurechtweisen, dann schaut sie uns nicht mal an!«, erzählte die Mutter. Der Vater beklagte sich darüber, dass sie »nie zuhören« könne: »Ich unterbreche sie dann und sage ihr, dass sie still sein soll, wenn ich als ihr Vater rede.«
Die Achtjährige wird in dieser und ähnlichen Situationen – so wie alle Kinder es tun – bestimmt deutlich gezeigt haben, dass sie sich gekränkt fühlt. Doch der Vater schneidet ihr daraufhin das Wort ab. So schweigt das Mädchen schließlich. Allein ihre Körperhaltung zeigt jedoch, dass sie verletzt ist: Sie senkt den Kopf und lässt die Schultern hängen.
Zu einer solchen Kränkung der Integrität kommt es, wenn wir Kindern ständig ihr angebliches Versagen und Fehlverhalten vorwerfen. Immer senden Kinder deutliche Zeichen und weisen damit auf die Verletzung ihrer eigenen Grenzen hin. Allerdings interpretieren Erwachsene diese Hinweise oft falsch oder übergehen sie schlichtweg.
Wenn sie in ihrer Persönlichkeit gekränkt werden und Erwachsene ihre persönlichen Grenzen verletzen, entwickeln Kinder auffälliges Verhalten. Meist äußert es sich darin, dass sie aufhören, mit uns im Team zu arbeiten. Sie kündigen ihre Kooperation mit uns auf, verweigern sich – und erst diese Symptome fallen uns Eltern dann auf.
ADHS: genetisch festgelegt oder durch Umwelteinflüsse erworben?
Die heute am häufigsten diagnostizierte Verhaltensauffälligkeit bei Kindern und Jugendlichen ist ADHS. Aber was steckt hinter dieser in den vergangenen Jahren geradezu zum Modewort avancierten Abkürzung für »Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung«? Gefasst werden unter dieses Stichwort verschiedene Symptome: Konzentrationsschwierigkeiten, mangelnde Aufmerksamkeit, Hyperaktivität, Impulsivität, motorische Unruhe. Die Ursachen dieses Phänomens sind nicht abschließend geklärt. Es gibt nicht nur eine Ursache – multifaktoriell nennt man das in der Fachsprache; denn man geht von verschiedenen Einzelfaktoren aus, die zu dem Verhalten führen.
Auch hier stellt sich die Frage: Sind die ADHS zugeordneten Symptome angeboren oder durch Umwelteinflüsse und bestimmte Beziehungsmuster erworben? Wenn man die auch von vielen Medizinern nicht weiter hinterfragte Erklärung einfach akzeptiert, dass ADHS auf genetische Ursachen zurückzuführen ist, kann man sich leicht auf eine unbeteiligte Position zurückziehen. Denn dann liegt die Verantwortung für die Entstehung der Symptome nicht mehr bei uns, wir sind machtlos – das Kind ist erkrankt, und das aufgrund einer genetischen Disposition.
Die Zahl der ADHS-Diagnosen ist in den letzten Jahrzehnten explosionsartig angestiegen, allein zwischen 1989 und 2001 um 400 Prozent, immer mehr Medikamente wurden verschrieben. 1993 waren es in Deutschland noch 34 Kilogramm Methylphenidat (dem Wirkstoff von Ritalin und anderen Medikamenten), 2010 bereits 1,19 Tonnen – also die 35-fache Menge. Hinzu kommt, dass sich die individuellen Dosierungen erhöht haben. Klarer Profiteur ist hier vor allem die Pharmaindustrie, deren Umsätze nicht zuletzt dank Ritalin und anderer handelsüblicher Methylphenidatpräparate in die Höhe schnellen. Auf dem deutschen Markt sind Medikamente mit dem Wirkstoff Methylphenidat unter verschiedenen Markennamen bei sechs Unternehmen erhältlich. Führend auf dem Methylphenidat-Markt ist der Schweizer Konzern Novartis (Ritalin).
Dabei ist unter Ärzten umstritten, ob der Anstieg der Fallzahlen nicht auch auf Fehldiagnosen zurückzuführen ist. »Denn«, so kritisierte Professor
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