Du denkst, du weißt, wer ich bin
als Kind immer vorbeigekommen und hatte mir sehnlichst gewünscht, einmal hineingehen zu können. Für mich hatte es mit seinem gemeißelten Mauerwerk und den schimmernden Bronzetürgriffen wie ein Palast ausgesehen.
Der Portier nickte höflich und hielt uns die Tür auf. Wir betraten einen Gang, der mit gerahmten Fotos ausgekleidet war. Zur Rechten gab es einen Raum mit Tischen und Stühlen aus dunklem Holz mit Messingfüßen. Ein Kaminfeuer loderte. Bis auf einen Mann, der in der Ecke ein Nickerchen hielt, war der Raum menschenleer.
Der Kellner kam, kaum dass wir uns gesetzt hatten. »Ich nehme eine heiße Schokolade«, bestellte ich, aber Miranda runzelte die Stirn.
»Sei nicht dumm, Samantha«, fuhr sie mich an. »Wir nehmen doch sonst immer Kaffee.«
»Entschuldigung, Penelope«, sagte ich, ohne eine Miene zu verziehen. »Ich vergaß.«
»Setzen Sie es meinem Vater auf die Rechnung«, wies Miranda an. »Mr Kramer-Berkell.«
Der Kellner nickte. Ich schaffte es, mich so lange zusammenzureißen, bis er verschwunden war.
»Hast du auch einmal einen Mann namens Mr Kramer-Berkell gekannt? Lass mich raten. Er starb an Malaria, die er sich auf einer Safari zugezogen hatte.«
»Nein, ich kenne keine Kramer-Berkells«, grinste Miranda. »Der Name klang nur irgendwie glaubhaft.«
Als der Kaffee kam, nahm ich ein Schlückchen. Ich wollte ja vor Miranda nicht wie der Dorftrottel dastehen. Er war bitter und milchig und heiß. Mir fiel etwas ein. »Jetzt hast du gar kein Outfit für heute Abend!«
Miranda nippte wie ein Feinschmecker an ihrem Kaffee. »Doch.«
Da sah ich, dass etwas aus der Ecke von Mirandas Schultasche hervorblitzte. Etwas Schwarzes, Schimmerndes. »Du hast das Kleid also gekauft?«
Miranda hob eine Hand und ließ alle Finger wie Spinnenbeine wackeln. »Nee, ich habe stattdessen den guten alten Fünf-Finger-Rabatt eingesetzt.«
»Du hast es geklaut? «
Miranda seufzte und ließ das Kleid auf den Tisch fallen. Als ob ich gerade etwas vermasselt hätte. »Jetzt raste nicht gleich aus, du Superspießerin«, motzte sie. »Alles in Ordnung. Der Chefdesigner von Silver – Leon – ist ein Freund von mir. Ich habe ohne Bezahlung für ihn gemodelt, als das Label noch ganz unbekannt war. Er hat gesagt, ich könnte mir dafür aussuchen, was ich wollte.«
Ich hatte nur einen kleinen Schluck Kaffee genommen, aber mein Kopf brummte schon. Vielleicht hatte Miranda ja tatsächlich als Model gearbeitet. Vielleicht kannte sie ja tatsächlich den Chefdesigner von Silver . Es schien nicht vollkommen unmöglich. »Warum hast du mir nicht verraten, dass du den Designer kennst, als wir noch in dem Laden waren?«
Miranda schob ihren Kaffee von sich. »Ach, ich weiß nicht«, gab sie verärgert zurück. »Weil es mehr Spaß machte, es nicht zu sagen, nehme ich an. Du weißt aber doch, dass es so etwas wie Spaß gibt, oder, Olive? Das ist das, was jeder hat. Jeder außer dir.«
Das versetzte mir einen Stich, und der Schmerz blieb, selbst als Mirandas Gesicht sich wieder entspannte. Ich hatte einen abgefahrenen Tag mit ihr verbracht – wirklich. Einige Stunden hatte ich sogar Ami vergessen können und Katie und Lachlan und diesen ganzen Mist, aus dem mein Leben bestand.
Miranda schob das Kleid wieder in die Tasche, zog den Reißverschluss zu, aber so schnell, dass er den Stoff einklemmte.
»Pass auf!«, rief ich. »Du reißt es kaputt.«
»Macht nichts«, sagte Miranda. »Ich habe sowieso meine Meinung geändert. Ich werde es heute Abend nicht tragen.«
Sie ließ die Tasche auf den Boden fallen.
Ich spielte mit meinem Löffel. Die Narkose, die den ganzen Tag angedauert hatte, ließ nach, und ich merkte, wie ich Ami vermisste. Vielleicht deswegen, weil ich ein paar Stunden nicht an sie gedacht hatte, aber der Schmerz war schlimmer als in den vergangenen Wochen. Ich sehnte mich danach, zu Hause in meinem Zelt zusammengekuschelt zu sein und Musik zu hören.
Dann setzte Miranda sich auf. Ihr düsterer Ausdruck war verschwunden. »Ich weiß was«, sagte sie aufgeregt. »Ich leihe mir was von dir.«
»Das ist doch wohl nicht dein Ernst?«, entgegnete ich. »Alle meine Klamotten kommen aus dem Secondhandladen.«
»Du Superwonk, das nennt man heute Vintage «, sagte Miranda. »Und du hast den richtigen Blick dafür. Dein Look – also, er ist jedenfalls einzigartig. Mir gefällt er.«
Ich konnte Mirandas Spiegelbild in meinem Löffel sehen, ihren eifrigen Gesichtsausdruck. »Ich meine, ich würde es verstehen, wenn
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