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Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Titel: Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Missfeldt
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Wochenbetten etc. überstanden haben .
    Während Storm auf diese Nachrichten in Heiligenstadt wartet, schreibt er Constanze an mehreren aufeinander folgenden Tagen. In der Ungewissheit des Wartens überfällt ihn ein altes Übel: Wenn nur die Qual der Phantasie nicht wäre. Aberwitzige Vorstellungen plagen ihn: Mit eindringlicher abscheulicher Deutlichkeit sehe ich dich wehrlos fern von mir dieser entsetzlichen Procedur preisgegeben; mir ist – ich kann es nicht anders sagen – als wenn Du geschändet würdest. Für ihn sind es Tage der Folter, damit beginnt eine Jagd von immer verabscheuungswürdigeren Bildern und Gedanken. Er sieht den untersuchenden Schwager als Ungeheuer: Wer kann den Arzt controliren ! Er fürchtet das Untersuchungsergebnis und fragt sich und Constanze, ob der Schaden ein dauernder sein werde. Vor allem aber fürchtet er ein Leben in gebotener Enthaltsamkeit […], die, wie ich nun einmal bin und woran ich nichts ändern kann, mich körperlich aufreibt.
    Storms Eifersucht treibt die Phantasie, und die Phantasie treibt die Eifersucht und beide treiben ihn immer weiter in die Gegend des Absurden und Verrückten, wo die Brücke zur Wirklichkeit unter ihm zusammenbricht: Der Gedanke, daß der Schooß der geliebten Frau der Betastung einer fremden Männerhand preisgegeben ist, ist doch wohl eins der entsetzlichsten Dinge, die einem Mann passieren können. Der Gedanke an ein Leben ohne Sexualität mit der geliebten Frau wird notiert als zu vollstreckendes Todesurtheil. Endstation dieser Gedankentrümmer: Es wäre ein humoristischer Streich von der Natur, wenn sie mich an Deiner Krankheit sterben ließe . Sexualität um jeden Preis; da macht Storm keine Abstriche. Verhütungspraktiken? Davon will er nichts wissen. Die passen nicht in das von ihm gesungene hohe Lied der Liebe, Vernunft singt nicht, und – last not least – dagegen wehren sich entschieden seine goldene Rücksichtslosigkeit, sein grenzenloser Egoismus.
    Dann kommt, nach fünf Tagen Folter, Constanzes Brief. Storm liest ihn und schreibt: Die Nachrichten sind ja Gott sei Dank leidlich. Aber mehr auch nicht . So weit so gut, dann packt ihn schon wieder der alte Ingrimm: Daß ich nun noch mit einem zweiten Mann die Geheimnisse Deines Leibes zu theilen habe, ist etwas, was ich gar nicht überkommen kann. Du bist mir nach dieser fremden Berührung, als gehörtest Du gar nicht mehr mir; und ich schaudre, wenn ich denke, daß meine Hand Dich berührte. Für sich selber und für Constanze kann er einen kritischen Blick auf die eigene Verfassung werfen: Meine Phantasie ist ganz irrsinnig geworden. Dann, als wenn er aus diesem Irresein heraustrete und einen Augenblick zur Besinnung komme: Hat denn Stolle sich einigermaßen ernst und anständig betragen?
    Inne halten? Luft holen und überlegen? Die spleenigen, nun gegenstandslos gewordenen Passagen streichen und einen neuen Brief schreiben? Daran hat Storm nicht gedacht. Nur keinen Zentimeter zurückweichen, Recht behalten, so lange es irgend geht und die Kraft reicht. Constanze möge Verständnis zeigen, so viel er ihr auch zu verstehen aufgibt. Storm behandelt sie, die Schonung braucht, als sein Eigentum, mutet ihr in seinem erzieherischen Liebesfuror und in seiner selbstherrlichen Anmaßung die »ganze Wahrheit« zu. Von Zaum und Zügel weiß er nichts. Takt, Hemmung, Rücksicht sind ihm versagt, Eigenschaften, die er von Constanze einfordert und in seinen Novellen meisterlich thematisiert und kunstvoll beschreibt. Ihm selber fehlen auch Werkzeuge des Selbstschutzes, die vor übermäßigem eigenem Leid bewahren. Seine furchterregende, allesverschlingende Liebe verschlingt ihn selber; sie kennt kein Maß, sondern nur das absurde Ziel des Einverleibens. Storm schickt seinen Brief ungekürzt ab, gelobt – ist da etwa ein mulmiges Gefühl? – am Ende Besserung und schildert Constanze noch ein unbeschwertes Familienleben aus Heiligenstadt – man mag‘s nicht glauben. Zwei Tage später erreicht die Post Constanze.
    Sie trifft in ihrer Antwort mit drei Worten den Nagel auf dem Kopf: Er sei in der eigenen Angst verbiestert gewesen. Sie beruhigt ihn und nimmt gleichzeitig den Doktor in Schutz: Unser Schwager Stolle hat sich ausnehmend nett bei der Untersuchung benommen, sehr ernst und sehr gewissenhaft; eine zweite Untersuchung thut natürlich nicht nöthig. Und sie hält ihren Ehemann auf Distanz: Nein, nein mein Herzensmann, ich bin diesmal ganz unschuldig
an deinen Qualen . Constanze, als

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