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Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Titel: Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Missfeldt
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nach Heiligenstadt zurück. Eigentlich könnte er sagen: alles in Ordnung. Es gibt keinen Grund, die Kündigung aus dem preußischen Staatsdienst zu vertagen. Storm lässt aber doch noch ein paar Tage verstreichen. Warum? Vieles spricht für Heiligenstadt, das Amt, die Freunde, die Musik. Einiges spricht gegen Husum: die unklaren politischen Verhältnisse. Dann aber verfasst Storm am 4. März sein Entlassungsgesuch, das Einzige, was sich für mich zu thun geziemte. Ich bin umso ruhiger, weil ich mir das Zeugnis geben kann, daß mich hiebei lediglich das Ding unterm linken Knopfloch, der kategorische Imperativ regiert hat, schreibt er später seinem Schwiegervater nach Segeberg. Kategorischer Imperativ – da greift Storm reichlich hoch. Es ist das empfindliche bürgerliche Ehrgefühl – stets in Konkurrenz zum Ehrgefühl des Adels –, das ihn bei dieser Entscheidung regiert. Und vieles andere mehr.
    Tatsächlich erreicht Storm bald ein Telegramm aus Husum, in dem ihm der neue Amtmann Thomsen mitteilt, dass er in Husum zum Landvogt gewählt worden sei. Die Familie war gerade zur Nachmittags-Teestunde um den großen runden Tisch versammelt, als die ersehnte Nachricht eintraf , schreibt Gertrud Storm. Jubel bricht aus, aber in das Herz des Dichters zog ahnungsvoll die bange Frage: »Wen von Euch soll ich dafür zum Opfer bringen?«
    Später äußert sich Storm noch einmal fast genauso in einem Beileidsbrief an einen alten Bekannten aus Heiligenstadt, Staatsanwalt Wilhelm Delius, der zum zweiten Mal den Tod eines Sohnes beklagen muss und nun kinderlos ist: Als ich den Entschluß gefaßt hatte, von Heiligenstadt wegzugehen, sagte ich zu meinen Kindern: »Wen von euch werd ich dieser Ortsveränderung zum Opfer bringen müssen?«
    Wieder eine von Storms goldenen Rücksichtslosigkeiten? Jedenfalls passt dieser Satz in das heidnische Storm-Denken, das die Gunst des Schicksals als Dienstleistung begreift und glaubt, dafür bezahlen zu müssen. Weit weg, auf dem entgegengesetzten Ende seiner Ideenwelt, liegt für Storm das große Unbekannte, das Christlich-Lutherische, das in solchen Zusammenhängen von Gnade spricht. Gnade kostet den Gläubigen nichts, sie ist ein Gottesgeschenk. Aber für Storm ist christliche Gnade ein Buch mit sieben Siegeln.
    An Mommsen schreibt er: Nach reiflicher Überlegung kann ich keinen andern Weg finden . Mommsen ist selten ohne Witz und Scharfsinn, aber er kann auch neunmalklug sein und antwortet: Klug ist Ihr Entschluß nicht, aber er ist recht .
    Das politische Rätselraten über Schleswig-Holstein ist inzwischen zu einer Art Denksportaufgabe geworden. Wer blickt da überhaupt durch? Undurchschaubar und voller Fragen liegt das Schicksal der beiden Herzogtümer im Zukunftsdunkel. Von Lord Palmerston (1784–1865), dem britischen Premierminister in dieser Zeit (1859–1865), ist eine Anekdote überliefert, die das politische Allgemeinbefinden im Süden des dänischen Gesamtstaats beschreibt. Der Lord lässt darin einiges vom berühmten englischen Humor durchblicken: Nur drei Menschen, so Palmerston, kannten sich in der schleswig-holsteinischen Geschichte aus. Der erste war der Prinzgemahl Albert aus dem Hause Coburg-Gotha, verheiratet mit Königin Victoria, der aber war schon gestorben. Der zweite war ein deutscher Professor; er wurde über der Schleswig-Holstein-Frage verrückt und landete im Irrenhaus. Der dritte war er selber, Lord Palmerston. Nur habe er alles vergessen, sonst wäre er auch noch verrückt geworden.
    Einer aber wird über der Sache nicht verrückt: Bismarck. Kein Staatsmann gestaltet seine Politik gerade jetzt mit so viel Umsicht und Konsequenz wie er. Vom Kreisrichter und Familienvater Storm kann man das für seine Berufs- und Familienlage ähnlich sagen.
    Nachdem er seinen Abschied eingereicht hat, bittet er bei seinem Vorgesetzten Direktor Hentrich um Urlaub; er will in Husum das Amt als Landvogt antreten. Hentrich lehnt den Urlaubswunsch ab: Dem p. Storm ist mitgetheilt, daß er so lange hier bleiben müsse, bis sein Abschied eingegangen sein würde .
    Storm fährt dann aber doch, acht Tage nach seinem Gesuch und gegen die Entscheidung seines Direktors, am 12. März nach Husum. Warum? Ihm läuft die Zeit weg. Er muss davon ausgehen, dass man in Husum nicht unbegrenzt auf ihn wartet, auch wenn sein Amt vorläufig vertretungsweise verwaltet wird. Rat kann er sich in dieser Lage nur bei seinem Vater holen. Der schreibt umgehend: Gestern abend, mein theurer Sohn, erhielt ich

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