Du lebst nur zweimal
Gesicht erhoben hatte und versuchte, die geschwollene Haut um die Augen auseinanderzuziehen, um sehen zu können. Immer wieder blieb er stehen und stieß qualvoll stöhnend ein Wort aus. Es war aber kein Klagen aus Angst oder Schmerz, sondern aus tiefster Demut. Plötzlich blieb er stehen. Er schien den See zum erstenmal bemerkt zu haben. Mit einem durchdringenden Schrei und ausgebreiteten Armen, als wolle er einen geliebten Menschen umfangen, rannte er aufs Ufer zu und warf sich ins Wasser. Sofort setzte die wirbelnde Bewegung ein, die Bond vorher schon beobachtet hatte, aber diesmal umfaßte sie eine größere Wasserfläche; das Wasser um den sich kaum bewegenden Körper brodelte wild. Ein Schwärm kleiner Fische drängte sich um den Mann, besonders um seine Hände und das Gesicht; ihre fünfzehn Zentimeter langen Körper glänzten und glitzerten im Mondlicht. Noch einmal hob der Mann den Kopf und stieß einen einzigen furchtbaren Schrei aus, und Bond sah, daß sein Gesicht mit festgebissenen Fischen bedeckt war. Dann fiel der Kopf in den See zurück, und er drehte sich immer wieder um sich selbst, als versuche er, sich von seinen Angreifern zu befreien. Aber der dunkle Fleck um ihn vergrößerte sich langsam, und schließlich lag er bewegungslos mit dem Gesicht nach unten im Wasser; der Kopf ruckte leicht unter dem pausenlosen Angriff der Fische.
James Bond wischte sich den kalten Schweiß ab. Piranhas! Die südamerikanischenSüßwassermörder,diemitihrenflachen,rasiermesserscharfen Zähnen sogar eine Stahlkette in Sekundenschnelle durchbeißen können! Und der Mann war einer der Selbstmörder gewesen, die von diesem entsetzlichen Tod gehört hatten! Er hatte den See gesucht und dabei sein Gesicht an irgendeinem prächtigen Strauch infiziert. Der Herr Doktor hatte wirklich für die Unterhaltung seiner Opfer gesorgt! Eine unendliche Auswahl an Vergnügungen!
James Bond schauderte und setzte seinen Weg fort. Schon gut, Blofeld, dachte er, das ist eine weitere Kerbe auf dem Schwert, das dich treffen wird! Bond hielt sich weiter dicht an der Mauer. Im Osten kündete sich die Morgendämmerung an. Doch der Garten des Todes war mit seinen Attraktionen noch nicht am Ende.
Ein leichter Schwefelgeruch hing über dem Park, und immer wieder mußte Bond dampfenden Spalten im Boden und den brodelnden Tümpeln der Fumarolen ausweichen, die durch Warnkreise aus weißbemalten Steinen angezeigt wurden. Der Doktor war sehr darauf bedacht, daß ja niemand irrtümlich in einen dieser flüssigen Hochöfen fiel! Bond erreichte jetzt einen von der Größe eines Tennisplatzes; im Hintergrund standen in einer Grotte ein einfacher Schrein und eine Vase mit Blumen - mit Chrysanthemen, weil jetzt eigentlich Winter war und damit Chrysanthemenzeit. Ihre Anordnung mit einigen Zwergahornzweigen vermittelte zweifellos den in die japanische Kunst des Blumensteckens Eingeweihten eine duftende Botschaft. Gegenüber der Grotte, hinter der sich Bond versteckt hielt, stand ein Japaner, tief in die Betrachtung der platzenden Schlammblasen versunken, die aus dem wallenden Brei des Tümpels aufstiegen. James Bond dachte unwillkürlich »ein Herr«, da der Mann den Zylinder, Gehrock, die gestreiften Hosen, den steifen Kragen und die Gamaschen eines hohen Staatsbeamten trug - oder eines Brautvaters. Der Herr hielt einen sorgfältig zusammengerollten Schirm in den gefalteten Händen, und sein Kopf war reuevoll über den Griff gebeugt. Er murmelte leise, eindringlich
- wie in einer Kirche -, machte aber keine Handbewegung; er stand einfach da, demütig und ruhig, und bekannte entweder etwas oder bat die Götter um eine Gunst. Bond lehnte an einem Baum. Er spürte, daß er eigentlich die Absicht des Mannes durchkreuzen sollte. Aber wie? Er konnte kein Japanisch und hatte nur seine Karte mit der Aufschrift »Taubstumm« vorzuweisen! Außerdem war es wichtig, daß er ein »Geist« im Park blieb, daß er sich nicht in eine verrückte Auseinandersetzung mit einem Mann einließ, den er gar nicht kannte
- über irgendein zurückliegendes Vergehen, das er sowieso nicht begreifen konnte. So blieb Bond im Schatten der Bäume stehen und wartete mit kaltem, verschlossenem Gesicht auf den Auftritt des Todes.
Der Mann schwieg. Er hob den Kopf und sah zum Mond auf. Höflich lüftete er seinen Zylinder, setzte ihn wieder auf, klemmte den Schirm unter einen Arm und klatschte laut in die Hände. Dann ging er ruhig und zielbewußt, als handle es sich um eine
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