Du sollst nicht lieben: Roman (German Edition)
auf der Bettkante und versuchte, das, was sich abgespielt hatte, in aller Ruhe noch einmal durchzugehen, doch ihre Hände zitterten, und sie konnte nicht aufhören zu weinen. Es war eine Art abgemilderte Panikattacke: Willkürlich und vollkommen ziellos sprangen ihre Gedanken zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her.
Sie strengte sich an, sich aufs rein Praktische zu konzentrieren, stand auf, legte den Bademantel ab und wagte einen Blick in den großen Spiegel. Schultern, Arme und Beine waren völlig zerkratzt von ihrer Flucht durch den Wald, bei der sie barfuß gewesen war. Am Schienbein hatte sie eine hässliche Schürfwunde von dem Sturz auf der Weinkellertreppe, rund um die Oberarme zogen sich gelbe und blaue Flecken sowie nässende Abschürfungen durch das Seil. Und sie hatte einen Sonnenbrand. Sie holte ihren Erste-Hilfe-Kasten, betupfte die Wunden mit Jod, versorgte sie, so gut sie konnte, cremte ihre gegerbte Haut mit Feuchtigkeitslotion ein und trank riesige Mengen Wasser. Schließlich bereitete sie sich etwas Warmes zu und zwang sich, es auch zu essen.
Das Telefon klingelte, doch sie achtete nicht darauf. Kurz nach Mitternacht kroch sie ins Bett – nachdem sie ihr größtes Küchenmesser darunter deponiert hatte. Sie schlief, noch bevor ihr Kopf ganz auf dem Kissen lag, und kam erst wieder zu sich, als gegen zehn am nächsten Morgen draußen ein Auto ins Schleudern geriet und das Bremsenquietschen sie weckte.
Wenig später saß sie in der Küche und lauschte dem Wasser im Kocher, das sich dem Siedepunkt näherte. Der Kühlschrank summte, am Laptop blinkte ein Licht. Einen Moment lang freute sie sich, ans Stromversorgungsnetz angeschlossen zu sein. Hass auf Adam stieg in ihr hoch, doch sie drängte ihn zurück. Sie hatte eine Entscheidung getroffen, von der sie nicht mehr abweichen konnte. Nachdem sie ihre neue Aussage gemacht hatte, brauchte Adam keine Anklage wegen Geiselnahme und Körperverletzung mehr zu fürchten. Aller Voraussicht nach würde er nun auch in der Öffentlichkeit als aufrechter, entschlossener Held dastehen, der mutig sein Eigentum gegen einen hinterhältigen Einbrecher verteidigt und danach unter einem solchen Schock gestanden hatte, dass er zwei Tage lang nicht in der Lage gewesen war, den Tod des Mannes den Behörden zu melden. Er würde bald aus dem Polizeigewahrsam entlassen werden und sich sonst wo aufhalten.
Sie griff nach dem Foto aus Struan Clarkes Wagen und drehte es zwischen ihren zerschundenen Händen hin und her. Warum lag ein Foto von ihr im Handschuhfach eines Einbrechers? Stimmte, was Adam gesagt hatte? Hatte er sie eher beschützt, als ihr etwas anzutun? Allein bei dem Gedanken schmerzten die blauen Flecken an ihren Armen. Er hatte angekündigt, dass er ihr etwas sagen werde, doch sie hatte ihm nicht geglaubt. Stattdessen hatte sie nur auf eine Chance gewartet zu fliehen, und das war auch genau richtig gewesen.
Als sie Kopfschmerzen kommen spürte, nahm sie eine Ibuprofen. Das Klicken, mit dem der Wasserkocher sich ausschaltete, ließ sie zusammenzucken. Adam hatte noch etwas gesagt. Dass Grace’ Mörder ebenso gut hinter ihr her sein konnte – der Mörder, den sie nie gefunden hatten. War es wirklich das? Erst Grace und dann sie? Und wenn ja – warum?
Sie kippte das Hochglanzfoto im Sonnenlicht mal zur einen, mal zur anderen Seite, so dass abwechselnd ihr Gesicht und das Gebäude im Hintergrund im Schatten lagen. Warum hatte sie es den Polizistinnen nicht gezeigt? Warum hatte sie ihnen nicht erzählt, was Adam über Grace gesagt hatte?
Greg traute der Polizei nicht. Nein, das traf es nicht. Er hasste sie. Er hielt Polizisten für korrupt, faul, rassistisch und inkompetent, und dieser Meinung war er auch schon gewesen, bevor Grace starb. Und wie sie ihn nach dem Mord behandelt hatten, wie sie ihn – nur weil sie keinen anderen Verdächtigen fanden – mit üblen Unterstellungen immer mehr bedrängt hatten, war Wasser auf seine Mühlen gewesen. Zu Beginn ihrer Bekanntschaft hatte sie seine fixen Ideen interessant und anrührend gefunden, aber im Laufe der Zeit hatte die Nähe unweigerlich dazu geführt, dass die eine oder andere dieser Regungen auf sie abfärbte. Welchen Beweis hätte sie auch vorlegen können? Wie hätte sie belegen sollen, dass jemand es auf sie abgesehen hatte? Ein Foto in einem Handschuhfach? Als sie ihren Tee aufgoss, hämmerte der Kopfschmerz schon gegen die Schädeldecke. Nein. Wie die Dinge lagen, hatte sie nichts, auch
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