Du stirbst zuerst
mich anstarrt. »Wir beginnen mit etwas ganz Einfachem«, wiederholt sie. »Einfacher geht es gar nicht. Wir setzen uns zusammen hierhin und sehen ihn nur an, ja? Wir schalten ihn nicht ein. Wenn Sie wollen, können wir sogar den Stecker herausziehen, aber wir setzen uns jedenfalls hierhin und gewöhnen uns daran. Wir verhalten uns so, als wäre auf der ganzen Welt alles in Ordnung.«
Meine Antwort ist ein heiseres Krächzen. »Warum soll ich hier sitzen? Was wird der Kasten mit mir tun?«
»Er wird überhaupt nichts tun«, widerspricht sie. »Deshalb sind wir ja hier. Sie sollen erkennen, dass er Ihnen überhaupt nichts tut. In Ordnung?«
Ich betrachte den Fernseher, der mich beobachtet, und knirsche mit den Zähnen.
Ich will keine Angst mehr haben.
»Na gut.« Mir schießen Tränen in die Augen. »Versuchen wir es.«
Es ist nicht wie ein Schalter im Kopf. Die Medikamente legen keinen magischen Hebel um, und auf einmal ist die ganze Verrücktheit verschwunden. Aber sie wirken. Langsam, aber sicher verändert das Seroquel die Art und Weise, wie ich die Welt betrachte.
Stellen Sie sich vor, Sie blicken durch eine stark verschmutzte Scheibe, die jemand säubert. Sie ist noch verschmiert und schmutzig, überall sind Streifen, überall kleben Dreck und Überreste, aber sie wird allmählich klar. Das Licht dringt hindurch, und einige Bilder schälen sich heraus. Es geht mir besser.
Das bedeutet, dass ich krank war.
Ich bin ziemlich sicher, dass die Made eine Halluzination war. Ich meine, wie kann so etwas real sein? Solche Kreaturen existieren nicht, und wenn sie existierten, wäre ich nicht der Einzige, der von ihnen wüsste. Außerdem hätte sie Rückstände hinterlassen – eine Schleimspur am Boden, klebrige Stellen, Bisswunden oder sonst einen Beweis, dass sie da war. Irgendjemand hätte etwas bemerkt, und man hätte Fragen gestellt. In der ganzen Klinik wäre Alarm ausgelöst worden. So etwas lässt sich nicht verbergen. Also war sie nicht real.
Ich verbringe die Tage damit, alles und jeden zu beobachten. Im Gemeinschaftsraum sitzt ein Patient, mit dem nie jemand spricht. Ist er real? Er hockt in der Ecke und redet mit sich selbst. Die Leute gehen wortlos an ihm vorbei. Vielleicht existiert er nur in meiner Einbildung. Beim Essen spricht eine Schwester mit ihm und legt ihm eine Hand auf die Schulter. Heißt dies, dass der Mann real ist, oder bilde ich mir auch die Schwester ein? Ich beobachte sie, als sie weitergeht und mit anderen Patienten über den Tagesablauf, das Essen oder sonst etwas redet. Vielleicht existiert das alles nur in meinem Kopf. Ich stelle mir vor, wie sich die Patienten bewegen und reagieren, während sie in Wirklichkeit ruhig dort sitzen und nichts sagen, weil die Schwester gar nicht da ist. Bin ich zu so etwas fähig? Wie real sind meine Träume? Wie innig ist die falsche Realität mit der echten verschmolzen? Wenn Doktor Vanek recht hat, kann man das gar nicht genau bestimmen.
Eins weiß ich aber sicher. Die leisen Schritte in der Nacht, die ich Shauna zugeschrieben hatte, habe ich nie wieder gehört. Es gibt keine Schwester, die nachts nach uns sieht. Nur den Nachtwächter, der durch die Flure geht und in die Fenster späht. Ich nehme an, dass ich mir Shauna genauso eingebildet habe wie die Made. Eine Halluzination, die mein verzweifeltes Bewusstsein hervorgebracht hat. Mein Unterbewusstes hat die stille Schwester erschaffen, dieses sanfte, schöne und freundliche Wesen, weil ich einsam bin.
Warum hat mein Geist die Made erschaffen?
Wieder schaudere ich, weil ich mir vorstelle, wie sie schrumpft und sich mir in den Kopf bohrt.
Doktor Little ist real, das ist ziemlich sicher. Ebenso Devon, Linda und Vanek. Zu viele andere Menschen haben sie gesehen, haben mit ihnen geredet und auf sie reagiert. Sie sind entweder alle Halluzinationen oder alle real, und wenn meine Halluzinationen derart umfassend sind, dann ist überhaupt nichts mehr real. Was ist mit meinem Vater? Es scheint plausibel, dass er eine Einbildung war. Mein schizophrener Geist hat einen Vater erschaffen, weil ich ohne Eltern aufwuchs. Da ich nicht wusste, wie sich ein Vater verhalten muss, habe ich ihn nach der grausamen Realität geformt, in der ich gelebt habe. Die Kinder der Erde sagten mir, ich sei nicht gut, und niemand liebte mich. Als Kind habe ich mich selbst gefüttert, mich selbst gebadet und mich selbst zur Schule gebracht. Lag es daran, dass mein Vater mich vernachlässigt hat, oder hatte ich gar keinen
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