Du stirbst zuerst
Krankenhaus«, sagt sie. »Das ist ein Gefängnis.«
»Du sagst, du hättest etwas herausgefunden.« Ich blicke zur Tür. »Was war es denn?«
»Sie wollen dich wirklich erwischen«, erklärt sie. »Das ganze Krankenhaus. Der Raumpfleger ist der Einzige, dem du vertrauen kannst. Er heißt Nick. Er hilft uns bei der Flucht.«
»Was wollen sie denn?«
»Ich weiß nicht, was sie von dir wollen«, sagt sie. »Aber das spielt keine Rolle mehr. Wir können sofort abhauen und kommen nie mehr zurück, du siehst sie nie wieder, und das alles hier ist völlig egal, weil du dann frei bist.«
Schwer atmend starre ich sie an und denke an die Außenwelt. »Die Medikamente wirken«, flüstere ich. »Auch wenn ein Teil davon real ist, ein anderer Teil ist es nicht, und ich will nicht wieder so werden, wie ich war.«
»Wir können dir andere Mittel besorgen, aber du musst sofort mitkommen. Nick hat mich hereingelassen, und er lässt uns auch wieder hinaus, aber wir …« Sie hält inne, starrt die Tür an, dann mich und wirkt plötzlich beunruhigt. »Das ist nicht möglich.«
Ich suche ihren Blick, die Sorgen wuchern in mir wie Unkraut. »Was ist nicht möglich?«
»Wir können nicht fliehen.«
»Aber du hast doch den Raumpfleger bestochen, oder?«
»Ja, schon …« Sie scheint verwirrt, als hätte sie etwas Wichtiges vergessen.
»Und er lässt dich wieder hinaus, richtig?«
»Natürlich, aber …« Sie schüttelt den Kopf. »Das ist doch alles Unsinn.«
Ich gehe einen Schritt auf sie zu. »Was ist Unsinn?«
»Ich erinnere mich, wie ich den Raumpfleger bestochen habe und hergekommen bin, um dich herauszuholen, aber wir können nicht weg.«
»Meinst du, wir können nicht weg oder ich kann nicht weg?«
Mit offenem Mund starrt sie mich an. »Das kann ich nicht genau sagen. Es ist nur … ich weiß es einfach. Es ist eine Tatsache, die ich einfach weiß. Wir gehen zur Pforte, wie ich es geplant habe, aber der Raumpfleger ist nicht dort, und dann sitzen wir in der Falle. Wir kommen nicht hinaus.«
»Glaubst du, er hat dich hereingelegt?«
»Nein, so ist das nicht, Michael. Das ist … es ist nicht bloß eine Ahnung. Ich weiß es einfach. Ich weiß es so sicher wie den eigenen Namen.« Sie hält inne. »Lucy Briggs.« Sie spricht es unsicher aus, als müsse sie es erst üben.
Langsam nicke ich. »Lucy Briggs.« Sie reißt die Augen vor Angst weit auf, und mir wird bewusst, dass sie dieselbe Kleidung trägt wie beim letzten Besuch – ein schwarzes T -Shirt und schwarze Jeans. Ich forsche im Gedächtnis, ob sie jemals etwas anderes getragen hat, aber … vergebens.
»Was ist denn los?«
Dann denke ich es, und in dem Augenblick, da ich es denke, weiß ich, dass es wahr ist, und sie weiß es auch. Ich sehe es ihr an und erkenne, dass sie meine Gedanken liest, und das bedeutet, dass ich recht habe. Ich wage es nur nicht laut auszusprechen.
Ihre Stimme ist nur ein Hauch. »Ich bin nicht real.«
Es bricht mir das Herz.
»Ich bin eine Halluzination, Michael.«
»Nein.«
Sie kommt auf mich zu. »Der Raumpfleger hat mich nicht hereingelassen. Du hast dir nur vorgestellt, ich sei hier, und der Raumpfleger war deine Erklärung dafür, dass so etwas irgendwie möglich ist. Aber es funktioniert nicht, weil wir nicht zusammen hinauskommen.«
Ich knirsche mit den Zähnen. »Du bist real.«
»Du weißt es längst. Im Grunde war dir die ganze Zeit klar, dass alles nur Einbildung war, und deshalb wusste ich es auch, denn alles, was ich bin, ist ein Teil von dir.«
Heiße Tränen brennen mir in den Augen. »Du bist real!«, rufe ich wütend.
Sie kommt näher und fasst mich am Handgelenk. Ich spüre die Berührung, die Wärme und den Druck, aber es ist so wenig echt wie die Augen, in denen ich mein Spiegelbild erkenne – eine jüngere Ausgabe von mir selbst, gut gekleidet, gut aussehend und halb vergessen. Ein verzerrtes Bild aus den eigenen Erinnerungen. Ein idealisiertes Ich in den Augen der idealen Gefährtin.
»Michael, es tut mir unendlich leid.«
»Wie kann es dir leidtun, wenn du gar nicht existierst?« Ich weine, entziehe mich ihrem Griff und fasse sie am Arm. Es fühlt sich nicht echt an. Ich spüre etwas Festes und Stabiles und weiß doch, dass es nicht real ist. Ihr Arm sollte nachgiebiger sein, und auf einmal ist er es. Ich denke, ich müsste doch den Puls im Handgelenk spüren, und auf einmal spüre ich ihn, kaum dass ich daran denke. Mein Bewusstsein ergänzt die fehlenden Einzelheiten, weil es sich verzweifelt
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