Du stirbst zuerst
zwanzig Jahre alt und schaffst es nicht mal, einen Job zu behalten. Du hast die Schule geschwänzt, jetzt bist du aus dem Irrenhaus geflohen. Gib mir einen Grund, damit ich abdrücke, und du entfleuchst aus dieser verdammten Welt.«
Ich starre das Gewehr an und habe viel zu große Angst, ihm zu antworten. Alles, was ich sage, egal was, wird irgendeinen der unzähligen Knöpfe in seinem Kopf betätigen. Ich habe viel zu lange hier gelebt und ihm viel zu oft zugehört, ich habe mich vor ihm versteckt und die Blutergüsse behandelt, die er mir zugefügt hat. Wenn ich weine, bin ich erbärmlich, wenn ich zustimme, bin ich ein Schwächling, wenn ich mich wehre, bin ich ein undankbarer, respektloser Penner. Wenn ich sage, dass ich das Medikament brauche, bin ich ein Verrückter und habe meiner Mutter Schande gemacht. Wenn ich sage, ich brauche es nicht, bin ich ein Lügner, habe sein Geld verschwendet und abermals meine Mutter enttäuscht. Ich kann nicht gewinnen. Ich habe noch nie gewonnen.
Ich starre die dunkle, schrecklich reale Schrotflinte an. Mein Vater hat noch nie die Waffe auf mich gerichtet – will er mich wirklich töten? Wird er das Krankenhaus verständigen oder die Polizei rufen?
Ich kann nicht mehr klar denken, ich kann die Gedanken nicht ordnen, mir will nichts Brauchbares einfallen. Warum tut er das? Warum bin ich hier? Ich weiß, warum ich gekommen bin, mir ist jedoch nicht mehr klar, ob es überhaupt sinnvoll ist. Ich will nur noch weglaufen. Ich brauche die Pillen. Ohne die Pillen kann ich nicht denken.
Ich beherrsche mich und bleibe ruhig, sage mir Mantras vor, zähle und versuche alles, was mir hilft, im Kopf klar zu bleiben. Er will mich loswerden – das kann er haben. Es ist doch besser, ich verschwinde freiwillig, statt ihm die Beseitigung meiner Leiche zu überlassen, oder? Er will mich auch gar nicht erschießen – jedenfalls hoffe ich es. Den Ärger, der damit verbunden ist, will er auf jeden Fall vermeiden, so viel ist sicher. Er hasst alles, was seinen Tagesablauf stört.
Ich sehe meinen Vater an, ohne seinen Blick zu erwidern. »Ich gehe«, sage ich noch einmal. »Ich gehe weg, und du siehst mich nie wieder.«
Er schnaubt. »Das habe ich schon mal gehört.«
»Ich meine es ernst.« Es kostet mich viel Überwindung, ruhig zu bleiben. Kann ich es wagen, ihm zu erklären, warum ich gekommen bin? Wenn ich ihn um Hilfe bitte – um irgendetwas –, werde ich dann sterben, ehe ich den Satz beendet habe? »Ich …« Frag ihn doch einfach! »Ich brauche Kleidung.« Ich knirsche mit den Zähnen und mache mich auf den Schrotschuss ins Gesicht gefasst. »Und ich brauche meine Pillen.«
Er schießt nicht. Ich beobachte die tiefen braunen Augen, das Weiße ist von roten Äderchen durchzogen. »Wohin willst du?«, fragt er nach einer Weile.
»Weg. Ganz egal. Jedenfalls aus dem Bundesstaat raus.«
Wieder schweigt er und bewegt das Gewehr leicht hin und her. Endlich nickt er und macht eine geringschätzige Geste. »Wie willst du leben? In keinem Job hast du es bisher länger als fünf Monate ausgehalten.«
»Ich komme schon zurecht.«
»Willst du stehlen?« Er setzt eine wütende Miene auf, kommt näher und lässt das Gewehr sinken. »Willst du die Drogen verkaufen, Michael?«
»Ich besorge mir einen Job«, erwidere ich rasch. »Ich mache … egal was. Aber ich werde die Drogen nicht verkaufen und die Gesetze nicht brechen. Ich brauche nur die Tabletten. Ohne sie komme ich nicht zurecht.«
»Du bist erbärmlich.«
Ich schweige.
Er überlegt kurz, dann lässt er die Waffe noch weiter sinken. »Wie kommst du da hin?«
»Wohin?«
»Was weiß ich – wohin immer du willst.«
Ich schüttle den Kopf. »Keine Ahnung.«
Er betrachtet mich einen Moment lang, dann lässt er das Gewehr ganz sinken. Es hängt neben dem Bein nach unten. Er reckt das Kinn.
»Versprichst du mir, dass du nie wieder herkommst?«
»Ja.«
»Nimm das Auto.« Er zögert. »Nun mach schon, verdammt! Hol deine Sachen!«, ruft er wütend.
»Gibst du mir wirklich das Auto?«
»Ich sagte, hol deine Sachen und deine Pillen und verschwinde aus meinem Haus.«
»Ich …« Ich nicke. »Danke.«
»Bedank dich nicht, verschwinde einfach!« Unwirsch wedelt er mit der Hand und wendet sich um. »Und lass dich nie mehr blicken, kapiert?« Ich nicke wieder und gehe den Flur entlang zu meinem Zimmer.
Das Clonazepam lagert unter dem Bett in einem Schuhkarton, der mit leeren Fläschchen halb gefüllt ist. Fünf volle habe ich noch.
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