Du stirbst zuerst
Das ist ein Jahr geistiger Klarheit, falls die Pillen überhaupt helfen. Mit fliegenden Fingern öffne ich eine Flasche und schlucke zwei Pillen ohne Wasser. Es wird eine Weile dauern, bis sie wirken, aber ich fühle mich schon besser, sobald ich sie nur in der Hand halte und weiß, dass ich das Mittel im Körper habe. Ich durchsuche den ganzen Karton, ob ich noch mehr finde, danach die Schubladen im Nachttisch, um jede lose Pille mitzunehmen, die ich entdecke. Es kommt mir so dumm vor, dass ich das Mittel gehasst und mich geweigert habe, es einzunehmen. Wusste ich nicht, wie hilfreich es für mich wäre? Wusste ich nicht, wie schrecklich das Leben ohne dieses Mittel war? Das ist das Problem bei Depressionen – wer daran leidet, findet nicht mehr den Mut, die Krankheit zu behandeln. Es ist fast wie ein Virus, perfekt an den Wirt angepasst.
Ich betrachte die gesammelten Tabletten auf dem Bett und zähle sie immer wieder durch. Warum gibt mir mein Vater das Auto? Er kann mich doch nicht leiden. Vor wenigen Minuten wollte er mich noch umbringen. In meinem ganzen Leben hat er mir noch nie etwas Gutes getan. Doch, er hat mir dieses Zimmer gegeben. Ich betrachte die kahlen Wände und den halb leeren Schrank. Warum …
Man hat mein Zimmer durchsucht. Es war keine Plünderung, nichts ist umgeworfen oder entzwei, aber ich entdecke einige Gegenstände, die eindeutig an einer ungewohnten Stelle stehen oder liegen. Eine Lampe, ein Kamm, ein Buch auf dem Nachttisch. Hat mein Dad etwas gesucht, oder war es jemand anders? Wahrscheinlich die Polizei, die Leute vom Krankenhaus – oder die Anderen. Außer dem Clonazepam hätte es nichts zu stehlen gegeben, aber das wurde nicht angerührt. Was haben die Eindringlinge gesucht? Ich stelle mir den FBI -Agenten Leonard vor, wie er nach geheimen Botschaften von den Kindern der Erde forscht. Vielleicht waren auch andere Agenten da, um nach Hinweisen auf den Mörder zu suchen.
»Dein Vater wird dich verraten«, sagt eine Stimme. »Du musst ihn töten, solange er nichts ahnt.«
Ich achte nicht auf das Drängen und öffne die Kommode. Dabei rede ich laut, um die Stimme zu übertönen. »Es spielt keine Rolle, warum sie das Zimmer durchsucht haben. Ich gehe weg. Ich nehme ein paar Sachen mit und ziehe mich um, und dann …« Als ich ein sauberes Hemd überstreife, halte ich inne. Es ist ein köstliches, sauberes Gefühl. Wie eine Umarmung. Wann hat mich das letzte Mal jemand umarmt oder sich freundlich an mich gewandt? Ich umarme mich selbst und presse das Hemd auf die Haut, schließe die Augen und versuche, Lucy heraufzubeschwören. Sie ist fort. Ich wische mir die Augen trocken. »Keine Zeit, weiter.« Ich stopfe Hemden, Socken und Unterwäsche in einen Rucksack und werfe die fünf Pillenfläschchen hinterher.
Jetzt bleibt nur noch eins zu tun. Ich gehe den Flur entlang, mein Vater ist schon draußen und kramt im Auto herum. Wahrscheinlich räumt er seine Sachen aus. Ich schnappe mir das Telefonbuch und suche: Fillmore, Finch, Fischer. Es gibt eine Kelly Fischer in der Holiday Street. Ich notiere mir die Adresse und lege das Telefonbuch weg.
Mein Vater kommt zur Hintertür herein und hat die Schrotflinte gegen einen Schlüssel getauscht. Er hält ihn hoch. »Du kommst nie wieder her.«
Ich nicke. »Nie wieder.«
»Du rufst nicht an, du schreibst nicht, ich höre nie wieder etwas über dich oder von dir.«
»Ich ändere sogar meinen Namen.«
Er drückt mir den Schlüssel in die Hand. »Fahr über den Highway vierunddreißig. Das ist der schnellste Weg aus der Stadt hinaus. Von da an bist du auf dich allein gestellt.«
Ich starre ihn an, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll. Die Worte entfahren mir, ehe ich mich beherrschen kann. »Warum tust du das für mich?«
»Ich tue es nicht für dich.«
Ich nicke. Für meine Mutter. Es geht immer um meine Mutter.
»Jetzt verschwinde, ehe ich die Polizei rufe.«
Ich halte inne, wende mich schweigend um und stoße die Tür auf. Er folgt mir nicht. Ich werfe den Rucksack und die alten Sachen ins Auto und steige ein. Als ich sitze, starre ich das Armaturenbrett an wie einen schlafenden Feind. Wenn ich den Motor starte, werde ich es fühlen. Das Auto sendet kein Signal aus wie ein Telefon, aber es erzeugt ein elektrisches Feld. Ich spüre es schon in mir zittern, als bekäme ich einen Anfall. Doch das ist die schnellste Möglichkeit, zu Kelly zu gelangen und die Antworten zu hören, die sie mir geben kann.
Ich stecke den Schlüssel
Weitere Kostenlose Bücher