Du stirbst zuerst
trägt einen Hut mit schmaler Krempe. Das kann nur eines bedeuten. Ich schließe kurz die Augen und spähe wieder in den Rückspiegel. Er ist immer noch da. Schließlich starre ich nach vorn und beobachte die Straße. Wir lassen die Stadt hinter uns, der Highway verläuft auf ebener Erde.
»Hier hinten sitzt jemand«, sagt Lucy leise.
»Ich weiß.«
»Er hat kein Gesicht.«
Ich atme tief und langsam ein und stoße schnaufend die Luft aus. »Ich weiß.«
»Die Gesichtslosen sind real«, sagt Vanek.
Ich achte nicht auf ihn und behalte die Straße im Auge.
»Der hier ist es nicht, so wenig wie der kurze Blick auf den Drogendealer, den Sie erschossen haben. Die sind Phantasieprodukte, genau wie Lucy.«
»Und wie Sie«, weist Lucy ihn wütend zurecht.
Vanek kichert. »Wenn du dich damit besser fühlst.«
Ich höre nicht hin und sage die Bundesstaaten in alphabetischer Reihenfolge auf: Alabama, Alaska, Arizona, Arkansas, Connecticut …
»Sie haben Colorado vergessen«, wirft Vanek ein. »Aber wie ich schon sagte, der hier ist nicht echt. Trotzdem existieren die Gesichtslosen.«
Ich bemühe mich, klar zu werden und das Bewusstsein so weit wie möglich zu leeren.
»Sie folgen Ihnen, Michael«, fährt Vanek fort. »Sie wollen Ihnen helfen.« Ernst sieht er mich an. »Wie ich schon sagte, Sie sind einer von ihnen.«
»Das ist nicht wahr.«
»Ach, dann existiere ich doch wieder?«
Ich schweige, denke an gar nichts. Das ist schwieriger als gedacht. Ich hätte Meditationsstunden nehmen sollen oder so was.
»Es ist auch mir erst bewusst geworden, als Sie Nick getötet haben«, fährt Vanek fort. »Das war das erste Mal, dass wir einen aus der Nähe betrachtet haben. Diese Unschärfe hat mich darauf gebracht. Niemand sonst fand Nicks Gesicht irgendwie merkwürdig. Für die anderen war er einfach nur ein Raumpfleger. Aber Sie haben anders reagiert und im Gegensatz zu allen anderen etwas wahrgenommen.«
»Man nennt das auch Schizophrenie«, fauche ich. »Die Diagnose stammt von Ihnen.«
»Oh, das erklärt sicherlich Ihre anderen visuellen Täuschungen, aber nicht diese ganz bestimmte. Sie standen unter dem Einfluss von Medikamenten, und die Halluzinationen haben nacheinander aufgehört. Dennoch haben Sie Nicks Gesicht verschwimmen sehen.«
»An diesem Morgen habe ich auch Sie gesehen«, widerspreche ich. »Offensichtlich haben die Mittel nicht gewirkt.«
»Ich sagte doch bereits, dass ich real bin.«
»Jetzt reicht es mir.« Lucy beugt sich vor. »Michael, kannst du ihn nicht einfach … wegdenken?«
»Das versuche ich bereits.«
»Haben Sie schon mal versucht, an irgendetwas nicht zu denken? Das ist schwieriger als gedacht.« Vanek blickt mich an. »Sie hätten Meditationsstunden nehmen sollen oder so was.«
»Haltet den Mund, alle beide!« Im Spiegel mustere ich die dunkle Gestalt. »Was ist mit Ihnen – wollen Sie sich nicht auch noch einmischen?«
Die Gestalt schweigt und hebt einen Finger.
»Nur eine Anmerkung? Was denn?«
Die Gestalt schüttelt den Kopf, dreht die Hand herum und deutet nach hinten. Als ich genauer hinsehe, bemerke ich es auch: blaue und rote Lichter, noch weit entfernt.
»Die Polizei.« Ich gebe Gas. »Sucht man uns?«
Die Gestalt nickt.
»Sie kommen näher.« Lucy sieht sich ebenfalls um. »Die fahren wie die Henker.«
»Dann müssen wir noch schneller sein.« Ich drücke das Gaspedal durch. »Können sie uns aufspüren?«
Die Silhouette schüttelt den Kopf.
»Irgendwie haben sie uns entdeckt.« Vanek hält sich an der Armlehne fest, als ich einen Lastwagen überhole. »Sind Sie sicher, dass das Auto nicht verwanzt ist?«
»Warum sollte jemand das Auto meines Vaters verwanzen?« Ich schüttle den Kopf, knurre vor Frust und schlage mit der Hand auf das Lenkrad. »Mein Vater hat mich verpfiffen. Er hat … er hat mir das Auto nur gegeben, weil er wusste, dass er es bald zurückbekommt. Wahrscheinlich hat er es als gestohlen gemeldet und der Polizei erklärt, wo man mich findet.«
Wir fahren durch eine landwirtschaftliche Gegend, sausen an Feldern, Zäunen und langen Baumreihen vorbei, die als Windschutz dienen. »Mein Vater will mich schon seit Jahren loswerden. Warum habe ich nicht daran gedacht, als er mir das Auto angeboten hat?«
»Sie sind nicht paranoid genug«, meint Vanek.
»Ich bekomme Mittel gegen Angstzustände!«, rufe ich. »Kein Wunder, dass ich nicht paranoid genug bin.«
»Lass mich aussteigen«, schlägt Lucy vor. »Ich lenke sie ab.«
»Sie können
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