Du und ich und all die Jahre (German Edition)
ein Foto von Alex; sie posierte vor der Kamera wie ein Model.
«Ich ziehe auf jeden Fall Jeans an», sagte ich. «Und viele Schichten übereinander. Einen Wollpullover. Und meine Doc Martens.»
Alex verzog angewidert das Gesicht. «Du kannst keinen Strickpulli anziehen, Nicole. Wir stehen im Fabric auf der Gästeliste.»
«Wieso? Wenn wir auf der Gästeliste stehen, können wir doch erst recht anziehen, was wir wollen. Und davon abgesehen drücken wir uns vorher noch stundenlang am Ufer der Themse rum und frieren uns den Arsch ab. Du wirst diesen Aufzug noch vor elf Uhr bereuen, ich warne dich.»
Alex schlüpfte aus den Schuhen, öffnete den Reißverschluss ihres Kleides und ließ es auf den Boden fallen. Ihre Unterwäsche war leuchtend rosa. Julian machte noch mehr Fotos von ihr.
«Zeig die Bilder ja niemandem, Jules», sagte Alex, während sie verzweifelt eine weitere Stange voller Kleider durchwühlte.
«Ach? Und dabei wollte ich sie vergrößern lassen und ins Wohnzimmer hängen. Wer kann, der kann …»
Die beiden fingen an zu kichern, was mir langsam auf die Nerven ging. Ich stürzte den Inhalt meines Sektglases herunter, um mich ein bisschen aufzumöbeln. Um ehrlich zu sein, war ich ganz schön schlecht gelaunt. Ich wollte keine Ewigkeit an der Themse herumstehen und mir das Feuerwerk ansehen, und ich wollte auch nicht in einen superschicken Club gehen, wo Alex und Julian genau reinpassten, während ich mir uncool vorkam. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir bei uns zu Hause eine Party veranstaltet, aber meine Mitbewohner hatten diesen Plan abgelehnt. Die beiden hatten nicht ganz unrecht, wenn man bedachte, dass in unsere Wohnung vielleicht gerade einmal fünfzehn Gäste hineinpassten.
Julian, Alex und ich teilten uns seit dem Sommer eine Wohnung an der Heneage Street, kurz hinter der Kreuzung Brick Lane. Sie hatte drei winzige Zimmer, eine Einbauküche und eine Duschkabine (keine Badewanne), war klein und vollgestellt, im Flur blätterte die Farbe von der Wand, und das Klo schimmelte. Wir fanden die Bude großartig. Sie lag nur einen Steinwurf von der Whitechapel Gallery entfernt, es war nur ein Katzensprung nach Shoreditch, und direkt nebenan wimmelte es von indischen Imbissen mit All-You-Can-Eat-Angeboten.
Ich war noch nie glücklicher gewesen: Jules und ich hatten Pläne für eine gemeinsame Wohnung geschmiedet (in New York oder Paris oder Barcelona oder London), seitdem er siebzehn und ich fünfzehn gewesen war. Dass Alex nun auch dabei war, machte die Sache nur lustiger. Ich liebte unseren faulen Sonntagsbrunch im Cantaloupe, die Abende auf unserem zerschlissenen Sofa, dazu billigen Rioja, Pizza und EastEnders im Fernsehen; am besten allerdings war, dass Jules nach einer langen Nacht in mein Bett kriechen und mir von seinen Abenteuern erzählen konnte.
Wen störte es da schon, dass die Wohnung nicht gerade das Luxusapartment unserer Jugendträume war? Angesichts unserer Finanzlage war sowieso nichts Besseres drin. Julian verdiente als Assistent bei einem freien Fotografen so gut wie nichts, Alex hatte ihren Traumjob in einem Verlag ergattert, musste aber ganz unten auf der Karriereleiter anfangen, also verdiente auch sie fast nichts, und ich verdiente gar nichts. Mein dreimonatiges Praktikum bei Optimum, einer Fernsehproduktionsfirma, hatte nicht zu einer Festanstellung geführt. Das lag nun schon fünf Wochen zurück, und ich war noch immer auf der Suche nach einem neuen Job. Wenn ich ehrlich bin, geriet ich langsam in Panik.
Was auch dazu beitrug, dass ich in diesem Jahr zu Silvester schlechte Laune hatte.
«Wenn ich bis nächsten Monat nichts gefunden habe, muss ich wieder bei meiner Mutter einziehen», beschwerte ich mich bei Julian und warf ein halbes Auge auf Alex’ sechsten Outfit-Versuch für diesen Abend.
«Ganz bestimmt nicht, das lasse ich nicht zu.»
«Mir geht das Geld aus, Jules. Im Februar kann ich die Miete nicht mehr zahlen.»
«Dann strecken wir dir die Miete für den Monat vor. Du ziehst nicht wieder nach Hause.»
«Ihr habt doch auch kein Geld, Julian.»
«Dann höre ich mit dem Rauchen auf. Das ist ohnehin einer meiner Vorsätze fürs neue Jahr.»
«Das nimmst du dir jedes Mal wieder vor.»
Alex drehte vor uns eine Pirouette. Jetzt trug sie goldene Hot Pants und ein durchsichtiges schwarzes Top.
«Nein!», protestierte ich. «In dem Aufzug gehe ich nirgendwo mit dir hin. Das ist mein Ernst. Du siehst aus wie eine Stripperin.»
«Das könnte die Lösung
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