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Du wirst schon noch sehen wozu es gut ist

Titel: Du wirst schon noch sehen wozu es gut ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Cameron Stefanie Kremer
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anderen Seite der Leinwand. Es ist schwer zu sagen, welche Tageszeit herrscht, denn der Himmel hängt voller dunkler Wolken, nur weit in der Ferne brechen Lichtstrahlen durch. Es ist eine Zeit des Zwielichts, jenseits jeder Zeit. Der Fluss steht kurz davor, ruhig in ein riesiges, dunkles Meer zu strömen. Im Boot sitzt ein alter Mann, und der Engel schwebt direkt über ihm und zeigt auf das dunkle Meer und den Himmel. In der Ferne sieht ein anderer Engel aus den Wolken herab. Die Hände des alten Mannes sind noch immer gefaltet, doch man kann nicht erkennen, ob er betet oder ob er den Engel anfleht, ihn zu retten, ehe er in die gewaltige, schaurige Dunkelheit davontreibt.»
    Ich schwieg.
    «Sie kennen diese Bilder aber sehr gut», sagte Dr. Adler.
    «Als ich sie das erste Mal sah, damals in der achten Klasse, fand ich sie wundervoll. Sie wirkten sehr tiefgründig. Im Museumsshop kaufte ich mir die Drucke, einen von jedem Bild. Richtige Drucke, keine Postkarten. Ich nahm das Geld, das meine Mutter mir gegeben hatte, um Andenken zu kaufen, und ich brachte sie mit nach Hause und steckte sie in billige Rahmen und hängte sie über meinen Schreibtisch. Kindheit und Jugend nach oben, und Erwachsensein und Alter darunter. Und ich sah sie mir gern an. Sie sind sehr stereotyp, aber mir gefiel das, mir gefiel es, zu sehen, wie sich die Elemente von einem Bild zum nächsten verändern. Wie die Wolken auf einem Bild ein Schloss formen und wie auf dem nächsten ein Gewitter heraufzieht. Wie das fruchtbare Tal zu felsigem Ödland wird. Und dann kam eines Tages dieser Junge, Andrew Mooney, nach der Schule vorbei und sah die Bilder und sagte mir, dass sie dumm und tuntig wären, also nahm ich sie ab. Ich glaube, ich habe sie weggeworfen. Wie auch immer, ich hatte sie vergessen.»Ich machte eine Pause.
    «Ja …», murmelte Dr. Adler.
    «Es brachte mich aus der Fassung, die Bilder wieder zu sehen, sie waren genau wie damals, in dem gleichen kleinen Raum. Ich konnte nicht glauben, dass derart kitschige Bilder Teil der ständigen Ausstellung in der National Gallery sein sollten. Und dann hatte ich dieses vollkommen irrationale Gefühl, dass sie das gar nicht waren, dass irgendwie irgendjemand gewusst hatte, dass ich kommen würde, und sie einfach wieder aufgehängt hatte. Dass es eine Falle war oder so was. Aber ich wusste, dass das nicht stimmte. Ich wusste, dass sie immer dort gehangen hatten - ich glaube, es war nur fünf Jahre her gewesen, aber es kam mir wie eine sehr lange Zeit vor. Man kann nicht in die Vergangenheit reisen, das weiß ich. Aber ich fühlte mich, als hätte ich genau das getan. Alles andere fiel irgendwie von mir ab, jene fünf Jahre und die ganze Welt, und mir war, als würde ich aus zwei Menschen bestehen. Ganz im Ernst. Ich konnte fühlen, was ich gefühlt hatte, als ich mir die Bilder mit dreizehn angesehen hatte, und ich konnte fühlen, was ich in jenem Moment fühlte. Ich blieb sehr lange in dem Raum. Ich dachte die ganze Zeit, ich sollte jetzt gehen, aber ich blieb. Immer wieder kam ein Wärter vorbei und sah zu mir herüber. Und dann war ich plötzlich bestürzt, denn mir wurde klar, dass ich auf dem letzten Bild, Alter , sein wollte. Ich wollte in dem Boot sein, das in die Dunkelheit trieb. Ich wollte das Erwachsenenboot überspringen. Der Mann in dem Boot sah so angsterfüllt aus, und ich konnte nicht verstehen, wo da der Sinn lag: Wieso sollte man sich durch diese tückischen Stromschnellen kämpfen, um einem Fluss zu folgen, der bloß in die Dunkelheit führte, in den Tod? Ich wollte bei dem alten Mann im Boot sein, alle Gefahr hinter mir haben, den Engel nahe bei mir, der mich in den Tod wies. Ich wollte sterben.
    Ich erinnere mich nicht mehr genau, aber ich glaube, ich fing an zu weinen, denn der Wärter kam zu mir herüber und gab mir einen Stuhl, und die Leute scharten sich um mich, als wäre ich ein Gemälde, und sie sahen mich an, und dann kam ein weiterer Wärter und wollte mich mitnehmen, und ich wurde aggressiv und versuchte wegzurennen, und ich trat ein Loch in die Wand, und der Wärter lief mir nach, und ein Mann im nächsten Raum stürzte sich auf mich. Ich glaube, er dachte, ich hätte ein Bild gestohlen oder verunstaltet. Und der Wärter brachte mich weg, nach unten in ein fürchterliches kleines Büro ohne Fenster, in dem nur eine fette Wärterin ihr widerliches Mittagessen von Taco Bell aß. Und irgendwie fanden sie heraus, dass ich der ausgebüxte Außenseiter war. Und dann kamen die

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