Du. Wirst. Vergessen.: Roman (German Edition)
ihn vielleicht nicht an der Nase herumführen und ihm was vormachen sollen, oder?« Seine Stimme klingt hart, anklagend.
Für einen Moment erstarre ich. Ich habe mich ihm anvertraut, und er verurteilt mich. Ich rücke von James weg, greife nach dem Sicherheitsgurt, doch es gelingt mir nicht gleich, mich anzuschnallen.
»Vergiss es«, sage ich. »Du würdest es ja doch nicht verstehen.«
»Recht hast du.« Er legt den Gang ein. »Ich verstehe es tatsächlich nicht. Aber du schuldest mir trotzdem keine Erklärung.«
»Danke«, sage ich bitter. »Nett, dass du das klargestellt hast.«
Wir verfallen erneut in Schweigen, und ich frage mich, wie James mir von seiner Mutter erzählen kann, nur um sich mir gegenüber im nächsten Moment so kalt zu zeigen. Ich frage mich, ob er sich Brady gegenüber auch so verhalten hat, als wir noch Freunde waren. Ob er mich damals schon so behandelt hat.
Ich frage mich, ob es schon immer so kompliziert war, mit ihm zusammen zu sein.
Als ich heimkomme, schlüpfe ich durch die Hintertür ins Haus, in der Hoffnung, meine Eltern hätten nicht bemerkt, dass ich in der vergangenen Stunde verschwunden war. Während ich die Treppe nach oben schleiche, höre ich, dass im Wohnzimmer der Fernseher läuft. Vor Bradys Zimmer bleibe ich stehen.
Ich gehe hinein, lege mich auf das Bett meines Bruders, starre hinauf an die Decke und hoffe, dass sie irgendwelche Geheimnisse preisgibt. Die gestohlenen Erinnerungen.
»Was ist mit dir passiert?«, frage ich und meine damit nicht nur meinen Bruder, sondern auch mich selbst.
Ich habe mein Zimmer ein weiteres Mal durchsucht, in der Hoffnung, vielleicht noch mehr zu finden, doch ohne Erfolg. So gut wie kein Bild außer den Familienfotos. Keine Todesanzeige von Brady, ausgeschnitten und mit einem Gebet auf der Rückseite beklebt. Kein Zeitungsartikel, für die Ewigkeit in einem Sammelalbum verwahrt.
Ich hüte mich, meine Mutter zu fragen, die immer nur mehr Lügen anzuhäufen scheint. Ich bin nicht sicher, was mit ihr und mir schiefgelaufen ist, aber ich vertraue ihr nicht mehr. Ich wette, sie hat im Besonderen damit zu tun, dass ich in »Das Programm« geschickt worden bin.
Das Handy in meiner Tasche vibriert, und ich ziehe es schnell heraus, hoffe, dass es Realm ist, auch wenn wir unsere Nummern nicht ausgetauscht haben. Ich zögere, als ich James’ Namen auf dem Display sehe.
Dann klicke ich ihn weg und schiebe das Handy wieder in meine Tasche. Mit James zusammen zu sein ist so unglaublich verwirrend. Wir teilen eine Vergangenheit, aber sobald wir der Lösung des Rätsels etwas näher kommen, zieht er sich zurück. Er verletzt mich. Und ich denke, noch mehr Verletzungen kann ich gerade jetzt nicht ertragen.
Ich drehe mich auf die Seite, rolle mich zusammen und denke nach. Als es an der Tür klopft, schrecke ich zusammen. Ich blicke auf und sehe meinen Vater.
»Hallo, Schatz«, sagt er. »Ich war gerade oben, um dir Gute Nacht zu sagen, aber du warst nicht in deinem Zimmer. Was machst du hier?«
Ich blinzele schnell und setze mich auf. »Ich vermisse Brady«, erwidere ich und versuche, seine Reaktion abzuschätzen. Er scheint in sich zusammenzufallen, reibt sich die braunen Augen, die auf einmal unendlich müde wirken.
»Ich auch«, antwortet er. Seine Khakihose ist zerknittert, und ihn umweht ein leichter Hauch von Alkohol. Ich frage mich, wann er zu trinken begonnen hat.
Wir schweigen lange Zeit. Ich beiße mir auf die Lippen, versuche zu entscheiden, ob ich fragen soll oder nicht. »Dad«, beginne ich, »hat Brady Selbstmord begangen?«
Mein Vater zieht hörbar den Atem ein. Er antwortet nicht sofort, setzt sich neben mich aufs Bett. Und dann, zu meinem absoluten Entsetzen, bedeckt er die Augen mit einer Hand, und seine Schultern beginnen zu zittern.
»Ja«, stößt er hervor. »Brady hat sich umgebracht.«
Ich werde ganz still, als sich meine Emotionen plötzlich wie ein Puzzle zusammenschieben, obwohl sie immer noch losgelöst von meinen Erinnerungen sind. Aber es ist, als würden meine Gefühle – mein Kummer – endlich einen Sinn ergeben.
Mein Vater versucht, seine Fassung zurückzugewinnen, und auch ich bemühe mich, nicht zusammenzubrechen. Realm hat mir die Wahrheit gesagt. Was mag er sonst noch wissen?
»Und was war mit uns?«, frage ich meinen Vater. »Ging es uns anschließend gut. Dir, Mom und mir?«
Mein Dad sieht mich an, doch sein Blick wirkt unkonzentriert, seine Augen sind rot gerändert. »Nein, mein Schatz«,
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