Du. Wirst. Vergessen.: Roman (German Edition)
zeigen, dreht sich Miller um und verschwindet, geht langsam die Treppe zu seinem Zimmer hinauf.
James lässt mich los, und ich setze mich wieder neben ihn, verwirrt. Ich weiß, dass sich Miller nicht auf diese Weise von mir angezogen fühlt. Dass er sich nur danebenbenimmt. Wir haben schon früher miterlebt, wie Leute ihre besten Freunde vor den Kopf stoßen oder anfangen, in der Gegend rumzumachen, wenn die Depression nach ihnen greift. Auch mein Bruder ist aus der Rolle gefallen, doch wir wollten es nicht wahrhaben. Wir haben so getan, als hätten wir es nicht bemerkt.
Mit diesem Gedanken wende ich mich James zu, mein Gesicht angespannt vor Sorge. »Soll ich …«
»Nein«, unterbricht er mich und hebt eine Hand. »Ich werde das schon regeln.« Er gibt mir noch einen Kuss auf die Stirn, bevor er die Treppe nach oben geht, zu Millers Zimmer. »Es kann eine Weile dauern«, fügt er hinzu. Auf das, was er vorhat, hat man uns seit der siebten Klasse gedrillt: mit einer Intervention einzugreifen, wenn es einem Freund nicht gut geht.
Ich nickte und schaue James hinterher, wie er nach oben geht, um Miller wieder zu uns zurückzubringen.
In der kleinen Küche, in der auf allem und jedem Hähne als Motiv auftauchen, bereite ich mir eine Hühnersuppe mit Nudeln zu, esse sie zusammen mit ein paar Crackern und spüle anschließend den Topf. Als mir langweilig wird, setze ich mich auf die Treppe, lehne den Kopf gegen die Wand und lausche, ob ich irgendetwas von oben höre.
Eine Dreiviertelstunde später taucht James am Treppenabsatz auf. Er lächelt, wirft mir einen Blick zu, der besagen soll, dass alles geklärt ist.
Miller schiebt sich an ihm vorbei, und ich weiche in die Diele zurück, beobachte, wie er die Treppe herunterkommt, bis er schließlich vor mir stehen bleibt.
»James meint, ich hätte keine Chance bei dir, weil er besser küssen kann«, beginnt er. »Ich hab ihm vorgeschlagen, wir könnten das doch austesten, aber da hat er mich so hart in den Magen geboxt, dass ich fast gekotzt habe.«
Ich werfe meinem Freund einen alarmierten Blick zu, doch er zuckt nur mit den Schultern.
»Ist schon okay«, beruhigt mich Miller und berührt mich am Arm. »Verdient hab ich’s ja. Tut mir leid, wenn ich so nervig war.« Sein Mund verzieht sich zu einem Grinsen. »Hoffentlich bist du jetzt nicht allzu enttäuscht, aber ich fühle mich nun mal nicht wirklich angezogen von dir.«
Ich verdrehe die Augen und blicke dann wieder zu James hin, der nun langsam Stufe für Stufe herabsteigt. »Hast du ihn tatsächlich geschlagen?«
»Ist nun mal das, was ich unter ›Intervention‹ verstehe. Und hat doch funktioniert, oder?«
Das ist typisch für James. Er denkt, dass er uns nur lange genug ablenken muss, damit wir vergessen, in was für einem Schlamassel wir stecken. Aber ist das wirklich ein Allheilmittel? Kann er uns immer und jedes Mal dazu bringen, unsere Tränen wegzulachen? Ich sehe ihn an, in dem Bewusstsein, wie sehr ich mich auf ihn verlasse. Darauf, dass er meine Gefühle lenkt.
James’ Lächeln verblasst, als ob er meine Gedanken lesen könnte. Als ob er genau wüsste, warum ich so ernst bin. Statt wie sonst einen Witz zu machen, schaut er nun auf die Bodendielen.
»Wollt ihr zwei einen Film sehen?«, fragt Miller, und er klingt zum ersten Mal an diesem Tag wieder lebendig. »Meine Mom kommt nicht vor vier zurück.«
»Deine Mom …«, setzt James an.
»Halt die Klappe«, sagen Miller und ich wie aus einem Mund.
James lacht, blickt endlich wieder auf, strahlt wieder so wie immer. Alles ist gut. Alles ist … normal.
Wir kehren ins Wohnzimmer zurück, vertrödeln die Zeit, wie wir es schon tausendmal getan haben.
Aber ich kann nicht anders, dauernd sehe ich unauffällig aus dem Fenster und halte Ausschau nach den Männern in den weißen Kitteln.
6. Kapitel
Während der nächsten beiden Tage ist Miller wieder ganz der Alte – oder zumindest eine ziemlich gute Nachahmung seiner selbst. Während des Unterrichts kritzelt er entweder in seinen Block oder starrt aus dem Fenster. Lacey hat ihn wohl nicht verraten, denn die Betreuer haben ihn bis jetzt in Ruhe gelassen.
A ber einer der Betreuer treibt sich weiterhin an der Schule herum, dieser unheimliche Dunkelhaarige, der mich ständig mit seinen Blicken verfolgt. Weder James noch Miller erzähle ich von ihm, weil ich Angst habe, sie könnten ihn anquatschen oder anderweitig Ärger machen. Also weiche ich seinen Blicken aus und versuche, nicht
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