Du. Wirst. Vergessen.: Roman (German Edition)
gut in Mathe ist. Es wirkt alles so falsch und aufgesetzt, dass meine Mom und mein Dad sich angstvoll anschauen und ich mich entschuldige, um in meinem Zimmer zu verschwinden.
Als ich auf meinem Bett liege, überlege ich, wie es wäre, wenn ich nie wieder aufstehen würde. Doch was würde es schon nützen? Dann würden die Betreuer erst recht kommen und mich mitnehmen.
Am nächsten Morgen ziehe ich Jeans an und zwei Socken, die nicht zusammenpassen. Ich mache mir nicht die Mühe, meine Zähne zu putzen, und ich kämme mir auch nicht das Haar. Ich starre in meine Müslischale, mag nicht essen. Mag diesem Körper keine Nahrung geben. Die Vorstellung, einfach dahinzuschwinden, ist so großartig, dass ich alles in den Ausguss kippe, als meine Mutter nicht hinschaut, und das Haus verlasse.
Ich schwänze die Schule. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, zu dem Termin mit meinem Therapeuten zu gehen. Mir das Geschwafel über die »guten Seiten« des »Programms« anzuhören. Darüber zu lügen, was ich empfinde, nachdem James zurückgekehrt ist. Ich werde nie mehr in das Wellness Center gehen. Ich will diesen ausgehöhlten James nicht sehen. In ein paar Wochen wird er so weit sein, dass er mit anderen reden darf, wird vielleicht sogar jemanden anlächeln. Ich frage mich, wie ich reagieren werde, wenn er einem anderen Mädchen einen herzförmigen Ring aus Plastik schenkt.
James weiß nicht mehr, wer ich bin. Da war nicht der geringste Funken des Wiedererkennens im Blick seiner blauen Augen. Es ist, als ob es mich nie gegeben hätte. Wir haben so viele Geheimnisse geteilt, und nun gehören sie nur noch mir. Ihr Gewicht drückt mich nieder.
Ich halte in der Nähe einer Farm an und hole meinen Block hervor, beginne, meine Gefühle niederzuschreiben. Ich habe niemanden mehr, mit dem ich reden kann – nicht einen Menschen, dem ich vertrauen kann. Ich bin dermaßen allein, dass es mir so vorkommt, als wäre ich tot, aber immer noch bei Bewusstsein. Innerhalb einer Dreiviertelstunde schreibe ich so viele Worte nieder, dass sie schließlich ihren Sinn verlieren.
Kuss, Tod, Liebe, Verlust … die Wörter taumeln ineinander, und meine Tränen weichen das Papier auf. Und dann gebe ich dem Drang nach, die Wörter durchzustreichen, presse den Stift jedes Mal härter ins Papier. Bald drücke ich sämtliche Seiten durch, und der Stift drückt sich durch den Karton. In meine Haut. Ich drücke so fest, wie ich kann, und ich wimmere, weil es wehtut. Doch das interessiert mich nicht. Nichts kann mich mehr interessieren.
Ich wünschte, ich wäre tot.
14. Kapitel
Während ich fahre, kaue ich auf meiner Lippe, ziehe an dem Fleisch, zucke zusammen, wenn es brennt. Jeden Tag fahre ich und weine, meine Lippen sind schon ganz rissig, aber es ist mir egal. Mein Haar ist ungekämmt und verfilzt, und auch das ist mir so was von egal.
Es ist jetzt vier Tage her, dass James nach Hause gekommen ist. Ich sitze meine Zeit in der Schule ab, aber ich rede nicht, schaue nicht auf. Meine Eltern fragen mich ständig irgendwas, doch ich antworte nur ausweichend. Sie machen sich Sorgen, doch das kümmert mich nicht. Nichts kümmert mich. Nichts hat mich je gekümmert.
Manchmal fahre ich am Haus von James’ Vater vorbei. Einmal habe ich James durch das Wohnzimmerfenster ge sehen, während er nach draußen ins Leere starrte. Fast hätt e ich geklingelt, aber ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Wie sagt man jemandem, dass man die Liebe seines Lebens ist, wenn er einen nicht erkennt? Wenn er dann nicht mal die geringste Reaktion gezeigt hätte, wie hätte ich das überleben sollen?
Als ich nach einer weiteren Runde Weinen wieder vor u nserem Haus anhalte, denke ich daran, endlich Schluss zu machen. Den Schmerz und die Furcht endlich enden zu la ssen. Ich bin wütend – wütender, als ich je war, aber darunter liegt eine Traurigkeit, die ich kaum ergründen kann.
Ich stelle den Motor aus und steige aus dem Wagen, gehe lustlos zum Haus. Mein strähniges Haar hängt mir in die Stirn und sogar halb über die Augen. Ich streiche es nicht zurück. Ich mag es so, es gibt mir das Gefühl, verborgen zu sein. Als ob ich verschwinden könnte.
Es ist still im Haus, als ich die Vordertür öffne. »Ich bin zu Hause«, sage ich, mache mir aber nicht die Mühe, auf eine Antwort zu warten. Ich will gerade nach oben in mein Zimmer gehen, als ich Geräusche höre.
»Sloane?«, ruft meine Mutter. Ihre Stimme klingt erstickt. Ich bleibe stehen und drehe mich nach ihr
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