Duell der Leidenschaft
sich tatsächlich um den Mann aus Kentucky. Er faltete die Zeitung zusammen und stand so unendlich langsam auf, dass Sonias Herzschlag ins Stocken kam. Ihre Blicke trafen sich, und als sie den zynischen Anflug in seinem Lächeln bemerkte, da wurde ihr klar, dass Monsieur Wallace sie die ganze Zeit im Auge behalten und bereits damit gerechnet hatte, sie könnte einen Fluchtversuch
wagen.
Dass sie keine Chance gehabt hätte, sich von ihm unbemerkt abzusetzen, machte sie rasend - fast so sehr wie die schmerzhafte Hitze, die sie vor peinlicher Verlegenheit überkam, als sie in die wachsamen grauen Augen des Gentleman sah.
Sofort schaute sie zur Seite und ließ den Blick zum Anlegeplatz wandern, auf dem das untere Ende der Laufplanke ruhte. Ein Gefühl von Niedergeschlagenheit legte sich schwer um ihr Herz. Direkt vor ihrer Nase lag die Freiheit, und doch war sie unendlich fern.
Kerr Wallace tippte an seinen Hut aus glitzerndem Filz, während er näher kam. »Ladys«, grüßte er höflich. »Ich hoffe, Sie sind mit Ihrer Kabine zufrieden.«
»Rundum zufrieden.« Tante Lily strahlte ihn an, als hätte sie ihn nicht erst vor wenigen Stunden regelrecht aus ihrer Kabine geworfen. »Und Sie, Monsieur? Sind Sie auch gut untergebracht? «
Sonia war dankbar, dass ihre Tante das Reden übernahm, denn sie selbst hätte keine so verständliche und gefällige Antwort zustande gebracht.
»Di e Lime Rock ist ein Frachtschiff, Madame, auf dem Passagiere erst an zweiter Stelle kommen. Es sind nur vier einzelne Kabinen verfügbar, die man Ihnen und Ihrer Nichte, einer Lady, die mit ihren Kindern reist, einem Regierungsvertreter und einer ältlichen und kränklichen Frau zugewiesen hat. Wir anderen müssen uns mit zwei Gemeinschaftskabinen begnügen, einer für die Ladys und einer für die Gentlemen.«
»Dann fühlen wir uns geehrt, zu den wenigen Auserwählten zu gehören«, erwiderte die Tante. »Haben wir das möglicherweise Ihnen zu verdanken?«
»Monsieur Bonneval hat die Passage gebucht, aber jemand anders hatte Ihre Kabine bereits in Beschlag genommen, als wir früher am Tag an Bord kamen. Ich musste den Gentleman nur davon überzeugen, dass Sie vor ihm einen Anspruch auf die Kabine hatten.«
»Ich hoffe, das verlief ohne große Schwierigkeiten, oder?« Das aufgeregte Funkeln in ihren Augen verriet, dass sie gern das Gegenteil davon zu hören bekommen wollte.
Kerr machte weiterhin eine ernste Miene. »Ganz und gar. Jedenfalls, nachdem ich ihm die Situation erklärt hatte.«
»Es war mir ein Vergnügen, das können Sie mir glauben. Und jetzt ist es mir sogar ein noch größeres Vergnügen.«
Der sportliche Gentleman hatte seine Unterhaltung mit dem älteren Mann beendet und kam zu der Gruppe um Wallace geschlendert. Während er redete, nahm er höflich und schwungvoll seinen Strohhut ab.
Tante Lily drehte sich zu dem Neuankömmling um und betrachtete ihn ermahnend. »Wie bitte?«
»Verzeihen Sie bitte meine Einmischung, aber ich habe zufällig Ihre Unterhaltung mitangehört. Ich weiß, es ist anmaßend von mir, mich Ihnen unaufgefordert vorzustellen, aber ich hoffe, unter den gegebenen Umständen werden Sie es mir nachsehen.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Alexander Tremont, für zwei so reizende Ladys stets zu Diensten.«
Sonias Tante hielt ihm ihre Hand hin und lächelte flüchtig. »Dann sind Sie derjenige, den wir aus der Kabine verbannt haben?«
»Das Ganze beruhte auf einem unglücklichen Missverständnis.«
»Dann denke ich, dass diese ungewöhnliche Art der Vorstellung gestattet sein sollte. Wir können schließlich nicht für die Dauer der Reise so tun, als würden wir Sie nicht kennen.«
Tante Lily hatte zwar grundsätzlich nichts gegen männliche Gesellschaft einzuwenden, doch für gewöhnlich war sie recht zurückhaltend, bevor sie fremde Männer ins Ver-trauen zog. Immerhin hatte sie nur wenige Augenblick zuvor keinen Hehl aus ihrer Kritik an dem Thema gemacht.
Sonia wollte kaum glauben, dass sie sich jetzt gegenüber einem Mann so höflich gab, den sie eben noch als Spieler bezeichnet hatte. Zweifellos führte ihre Tante etwas im Schilde. Sie konnte nur hoffen, dass es um nichts weiter ging als darum, einen freundlichen Begleiter zu haben, der einem den einen oder anderen Gefallen erwies, mit dem man den Deckstuhl tauschen konnte, wenn es zu sonnig oder zu windig wurde, und mit dem man sich während des Essens gepflegt unterhalten konnte.
Monsieur Wallace schien sich über diese
Weitere Kostenlose Bücher