Duell: Island Krimi (German Edition)
Bruder ermordet worden war und dass der Verbrecher, der das getan hatte, noch nicht gefasst war. Trauer und Leid schwebten über der Wohnung. Die Vorhänge an den Fenstern waren zugezogen und Kerzen angezündet worden, die sich ganz langsam in das Schweigen der Trauernden einbrannten.
»Das ist alles so vollkommen unbegreiflich«, sagte die Frau zu Marian. »Er ist doch einfach nur ins Kino gegangen, und nun wird er nie mehr zurückkommen. Wie soll man damit fertig werden? Wie ist das möglich? Erstochen. Wie ist das möglich? Wer könnte Ragnar erstechen?«
»Dein Mann Einar hat gestern Abend erwähnt, dass euer Sohn ein wenig anders sei. Was hat er damit gemeint?«
Die Mutter, Albert und Marian Briem saßen im Wohnzimmer. Der Vater war nach einer schlaflosen Nacht gegen Morgen endlich doch noch eingeschlafen, genau wie die Töchter. Nur Klara war schon wieder auf den Beinen, sie hatte keinen Schlaf finden können. Sie hatte den beiden Kriminalbeamten die Tür geöffnet und versuchte, ihnen nach besten Kräften behilflich zu sein.
»Habt ihr schon irgendwelche Hinweise darauf, was geschehen ist?«, fragte Klara. Nach der schlaflosen Nacht wirkte sie völlig erschöpft.
»Nein, leider nicht«, sagte Albert.
Im Hafnarbíó würde der Kinobetrieb am späten Nachmittag wieder aufgenommen werden, die Suche nach eventuellen Spuren des Täters war abgeschlossen. Auch in der näheren Umgebung des Kinos hatte man alles genauestens nach der Mordwaffe oder anderen, für die Ermittlung wichtigen Indizien untersucht. Außerdem wurden alle Besucher der Fünfuhrvorstellung von Stalking Moon über sämtliche Medien dringend gebeten, sich bei der Polizei zu melden. Einige hatten prompt darauf reagiert, aber es fehlten immer noch einige der fünfzehn Personen, die sich eine Kinokarte gekauft hatten. Die Angestellten im Kino gaben sich alle Mühe, die Besucher der Fünfuhrvorstellung zu beschreiben, die einzige Frau, den Wettermann aus dem Fernsehen und die restlichen jugendlichen und erwachsenen Männer unterschiedlichen Alters. Die Angestellten hatten nichts Ungewöhnliches bemerkt und erinnerten sich kaum an einzelne Personen. An solch normalen Tagen kamen und gingen die Kinobesucher, ohne dass man ihnen besondere Aufmerksamkeit schenkte.
»In welcher Hinsicht war Ragnar anders?«, fragte Marian Briem noch einmal.
»Er hatte einen Kinotick«, antwortete Klara. »Er hat sich jeden Film angeschaut, darüber gelesen und alles mögliche Informationsmaterial dazu gesammelt. Er war ständig im Kino, und wenn ihm ein Film gefiel, hat er ihn sich auch zweimal angesehen.«
»Aber das ist doch nichts Besonderes«, entgegnete Marian. »Es gibt doch eine Menge Menschen, die regelmäßig ins Kino gehen.«
»Ja … natürlich. Er … Ragnar ist im letzten Frühjahr siebzehn geworden, aber er war nicht auf der Entwicklungsstufe eines Siebzehnjährigen. Ich meine auf der geistigen Entwicklungsstufe.«
»Wieso?«
»Er hatte einen Unfall.«
»Was für einen Unfall?«
»Mit vier Jahren ist er von einer steilen Treppe gestürzt, davon hat er sich nie wieder erholt. Es hat damals Blutungen im Gehirn gegeben, und die Ärzte sagten uns, dass die Schäden in einem bestimmten Bereich des Gehirns bleibend seien, weshalb er auch in seiner geistigen Entwicklung zurückblieb. Wir wohnten damals im Dachzimmer eines kleinen Holzhauses, von dem aus man über eine steile Stiege auf den Dachboden gelangte. Dort hat er gern gespielt, aber dann hat er nicht aufgepasst, und eines Tages ist er die Stiege heruntergefallen und direkt mit dem Kopf aufgeschlagen. Er war zwei Tage ohne Bewusstsein.«
Klara sah Marian an.
»Vielleicht war es unsere Schuld. Vielleicht haben wir nicht gut genug auf ihn aufgepasst. Darüber habe ich die ganze letzte Nacht nachdenken müssen. Eigentlich war er wie alle anderen, man musste ihn schon ziemlich gut kennen, um zu bemerken, dass er anders war. Darüber habe ich heute Nacht auch lange nachdenken müssen. Er konnte sehr starrköpfig und trotzig sein, wenn er sich auf etwas fixiert hatte. Wir kannten diese Eigenheiten sehr gut. Aber er hat nie jemandem etwas getan. Ragnar hätte keiner Fliege etwas zuleide tun können. Er muss jemanden wütend gemacht haben. Und dieser Jemand wusste nicht, wie er war. Wie er dachte.«
»Es scheint nicht zu einer tätlichen Auseinandersetzung gekommen zu sein«, sagte Marian Briem. »Wir haben keinerlei Anzeichen dafür gefunden.«
Den ersten Erkenntnissen zufolge hatte Ragnar keine
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